Zum 9. November: Blick auf Borbeck

Der Alte Markt im historischen Spannungsfeld von Gewaltherrschaft und Frieden

0 02.11.2024

BORBECK. November ist ein Monat der Rückbesinnung. Der 9. November als Jahrestag der so genannten Reichspogromnacht und der folgende Volkstrauertag sind Gedenktage, die uns daran erinnern, dass die Sicherung des Friedens ein unumstößliches Gebot darstellt. Was aber haben der Alte Markt und sein Umfeld damit zu tun?

Zum Sachverhalt: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 verwüsteten Schlägertrupps jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen oder setzten sie in Brand - auch am Alten Markt. Menschen jüdischen Glaubens wurden misshandelt oder sogar getötet.

Angriffe, die sich beispielsweise gegen religiöse Minderheiten richten und mit Duldung staatlicher Behörden geschehen, werden als Pogrom bezeichnet. Die Nacht der Gewalt im November 1938 wird deshalb Reichspogromnacht“ genannt.

Doch schon lange vorher kündigten sich diese Gewaltexzesse an. Werner Salzmann, der in unmittelbarer Nähe des Alten Marktes in der Wüstenhöfer Straße 221 wohnte, berichtet von einem Vorfall in der Zeit kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933:

Zwei SA-Männer rempelten mich auf der Straße an, ich drehte mich um und trat einen der beiden in den Hintern. Völlig verdutzt guckten die beiden, gingen dann aber weiter. Am Abend erschienen etwa 20 SA-Männer vor unserem Haus in der Wüstenhöferstraße und wollten mich holen. Wir alarmierten die Polizei, doch die sagten einfach: ´Wir können da nichts machen`. Zum Glück versteckten mich die Nachbarn, aber so weit war es schon gekommen, dass ich meinem Vater sagen musste: ´Wenn man von der Polizei keinen Schutz mehr bekommt, dann kann ich nicht mehr hierbleiben`.

Nach dem Krieg schilderte Werner Salzmann Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Borbeck dieses Schlüsselerlebnis als sein großes Trauma.

Werner Salzmann wurde am 4. Juni 1912 in Borbeck als Sohn von Arthur und Betty Salzmann geboren, die in der Gerichtsstraße ein Möbelgeschäft betrieben. Nach dem Schulbesuch machte er eine Lehre, entschied sich aber danach, aus Angst um sein Leben Deutschland zu verlassen. Seine Flucht führte ihn in einer wahren Odyssee durch Länder Europas und Nordafrikas, bevor er nach dem Krieg die französische Staatsbürgerschaft erwarb und sich in Frankreich eine neue Existenz aufbaute. Werner Salzmann starb am 9. Juli 2000.

Der Alte Markt – heute amtlich Borbecker Platz - war für die Nationalsozialisten der Ort, an dem sie ihre Veranstaltungen abhielten. Mitglieder der im sogenannten NS-Jungvolk organisierten Schüler wurden hier zu besonderen Anlässen zum Appell zusammengerufen, beispielsweise am 30. Januar 1943, damit an das zehnjährige Jubiläum der Machtergreifung Hitlers erinnert werden konnte. Die Situation auf dem Borbecker Marktplatz war an diesem Tag gespenstisch, auch wenn aus dem feierlichen Anlass ein Fanfarenzug erschienen war.

Erste Kriegsschäden hatten nämlich auch Borbecks Mitte erreicht. Deshalb war es verboten, Fotos zu machen. Trotzdem konnte ein Bild heimlich durch die Schaufensterscheibe eines angrenzenden Geschäftes aufgenommen werden. Es zeigt im Hintergrund das heute noch vorhandene Gebäude des ehemaligen Uhren-Geschäfts Fürtges.

Nach dem Krieg haben besonders junge Menschen wiederholt bewiesen, dass sie aus der Geschichte Lehren gezogen haben. Das wollten Borbecker Schüler im Jahr 1995 auf ihre eigene Art zeigen. Im Rahmen eines interkulturellen Festivals auf dem Alten Markt verhüllten sie – nur wenige Schritte entfernt – das Denkmal der Germania.

Die Germania besteht aus Stein, ist mit Schwert und Lorbeerkranz ausgestattet, hat den Reichsadler zu ihren Füßen und steht auf einem gestuften Sandsteinsockel. Das Denkmal wurde am 17. Oktober 1880 feierlich enthüllt. Die Inschrift des Denkmals lautet: „Ihren in den Feldzügen 1866, 1870–71 ruhmvoll gebliebenen Söhnen. Die Bürgermeisterei Borbeck.“ Dazu befindet sich an der rechten Seite des Sockels eine Tafel mit den Namen von Gefallenen.

Nach Meinung der Borbecker Schüler stünde das Denkmal für Tod und Gewalt und habe in der Öffentlichkeit einen zu hohen Stellenwert. Daher plädierten sie im Grunde für eine inklusive Gedenkkultur, in der alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gewürdigt werden sollten.

Eine lebhafte Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Essener Universität meldete sich und präsentierte einen in einer Diplomarbeit erarbeiteten Entwurf für ein vermeintlich zeitgemäßes Denkmal.

Germania von 1995

Die moderne Germania sollte gegenüber der alten Germania aufgestellt werden. Während der im Krieg Gefallenen auf „patriotische und heroisierende Art und Weise“ gedacht werde, würde die „Germania 1995“ als „Kunstwerk zum Anfassen an Toleranz und Frieden im menschlichen Miteinander“ appellieren.

Wie dem auch sei: Junge Menschen hatten ihre Haltung friedlich und anschaulich dargestellt und sich dazu auf die Schulprogramme ihrer Schulen berufen können, in denen das anlassunabhängige Handeln gegen Gewalt und Rassismus und die Erziehung zur Toleranz als ständige und unabdingbare pädagogische Grundorientierungen festgeschrieben sind.

Als in den Folgejahren in verschiedenen Ländern kriegerische Konflikte ausbrachen, nahmen Borbecker Schüler unmissverständlich Stellung. „2.000 Schüler bei Demo gegen Gewalt“, „Borbeck: Schüler marschieren für Frieden“, „Schüler sind gemeinsam gegen Gewalt“, „Schüler setzen Zeichen gegen Terror und Krieg“, „Schweigemarsch für die Opfer des Terrors. 5000 Schüler setzten Zeichen gegen Attentate in den USA“ und „Borbecker Schüler gegen Krieg. Überwältigende Demonstration“ lauteten die Schlagzeilen.

Diese Kundgebungen waren möglich, weil die Jugendlichen von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen konnten, die ihnen unsere Verfassung – die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung“ - gewährt. Im Geist unserer Verfassung, die in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag feiert, haben sie daran mitgewirkt, den Alten Markt zu einem Ort der friedlichen demokratischen Auseinandersetzung zu machen.

Wolfgang Sykorra

 

Quellen:

Borbecker Nachrichten 3.3.1994, 11.5.1995, 19.5.1995, 26.5.1995, 8.6.1995, 20.9.2001
Westdeutsche Allgemeine Zeitung Essen 18.9.2001
Neue Ruhr Zeitung Essen 19.5.1995
Borbeck Kurier 19.9.2001, 19.3.2003
Klaus Lindemann, Dies Haus. Ein Denkmal wahrer Bürgertugend. Das Gymnasium Borbeck seit der Kaiserzeit, Essen 2005, S.247
Ernst Schmidt, „Die jüdischen Schüler“. In: Klaus Lindemann, S. 322 f.
Wolfgang Sykorra, Von der Penne in die Welt. Borbecker Porträts, Essen 2013, S. 28 ff.
Allgemeine Lexika
Bildnachweise: Archiv Ernst Schmidt, Borbecker Nachrichten/Filz, Borbecker Nachrichten/Langbehn, Lindemann, „Dies Haus“/Krüger

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