Ziegen in Borbeck

1 11.05.2021

Meckern kann jeder! Aber nicht jeder hat eine Ziege. Früher war das anders. Da kam zur eigenen Meckerei das natürliche Meckern der Ziege dazu. In fast jedem Bergmannshäuschen wurde gemeckert, was die Stimmbänder hergaben, und gemolken, was den Eutern zu entlocken war.

Die Ziege lief damals unter der Bezeichnung „Bergmannskuh“. Sie gab Milch wie die Kuh, weniger zwar, aber durchaus nahrhaft, und sie passte besser in den engen Stall oder Verschlag, den man für sie am eigenen Häuschen baute. Außerdem fraß sie einem nicht die Haare vom Kopf, sie gab sich mit wenig Futter zufrieden, ließ sich auch von kleinen Kindern am Strick von kleinen Kindern zum Fressen an den Wegesrändern führen, hinterließ nach der Verdauung nur kleine und leicht zu entsorgende, wenn auch auf den ersten Blick mit Kaffeebohnen oder Salmiakpastillen (s. Hermann Hagedorn) zu verwechselnde Spuren, und erinnerte viele Bergleute an ihre masurische oder ostpreußische Heimat. Die Ziege war ein wichtiger Bestandteil der Selbstversorgung in den kinderreichen Familien der Industriearbeiter, Bergleute und Kleinbürger. Verbreitet war in der Ruhrregion die Weiße Deutsche Edelziege, in anderen Bergbaugebieten, wie zum Beispiel im Erzgebirge, gab es die Erzgebirgsziege, auch „Schacht-Ziesch“ genannt.

Es gab lange Zeit Ziegenvereine, Ziegenausstellungen und Ziegenmärkte. Im Jahresbericht des Borbecker Gemeinderats für das Geschäftsjahr 1898/99 ist von einem Ziegenmarkt in Borbeck die Rede: „Auf Antrag des hiesigen Ziegenzuchtvereins genehmigte der Herr Oberpräsident der Rheinprovinz durch Erlass vom 14. Juni 1898 … die Abhaltung eines Ziegenmarktes hier selbst am Montag nach dem letzten Sonntag im April und September (also an den Kirmesmontagen) auf die Dauer von drei Jahren.“ (Koerner 1996, S. 71).

Wie eine Ziegenschau in Borbeck abzulaufen pflegte, geht aus einem Augenzeugenbericht über eine Schau auf dem Schulhof Borbeck I aus dem Jahre 1902 hervor: „Für die Schüler von Borbeck I war der Kirmesmontag schulfrei. Jahr für Jahr war auf dem Schulhof die traditionsgebundene Borbecker ‘Hippenkirmes‘. … Die Eingeborenen aus den Landschaften Gerschede, Reuenberg, Langenhorst, Vogelheim und Bochold brachten kräftige Rassetiere. Aber darin waren die Ziegen alle gleich: Die Hornhufe waren mit Pilo blank gewichst, Haare geschnitten, gekämmt, gebürstet und dann mit Duftwasser eingesegnet, standen sie nun alle in Reih‘ und Glied, voll Erwartung, was die Musterung wohl bringen würde“ (Koerner, 1996, S. 72).  

Wie wichtig die Ziege für den Lebensunterhalt war, belegt der „Meckerbrief“ aus dem Jahre 1882, in dem eine Witwe aus Bochold gegenüber dem Borbecker Bürgermeister Rudolf Heinrich Beschwerde darüber führt, dass das Grubenwasser der Zeche Wolfsbank täglich in die Ställe eindringe mit der Folge, dass ihr im Laufe eines Jahres „zwei Ziegen krepiert“ seien und sie sich häufig gezwungen sehe, „das Vieh ins Haus zu nehmen.“ (Koerner 1964, S. 35).

Eine andere Beschwerde stammt aus der Feder des Leiters der damaligen katholischen Knabenmittelschule Dr. Leonard Nohlmanns. Er schrieb 1883: „Er. Wohlgeboren verfehle ich nicht, ergebenst anzuzeigen, dass unser Spielplatz seit einigen Tagen benützt wird als Weideplatz für Ziegen, welche bereits eines von den schönsten Bäumchen des Platzes erheblich beschädigt haben.“ (Koerner 1996, S. 69).

Ludwig Wördehoff erwähnt in seinem Artikel über die Ziegen in Borbeck, dass nach langer Zeit das Vereinsschild des „Ziegenzuchtvereins Borbeck und Umgebung“ an der Theke der Gaststätte Herbert Kißmann im Möllhoven zu sehen gewesen sei. Im gleichen Artikel zitiert er aus dem Bericht in den Borbecker Nachrichten in der Ausgabe vom 11. August 1950 über die Ziegenausstellung des Vereins im Garten der Gaststätte Kißmann im Möllhoven 107, bei der auch der Altbock von der Station Reuenberg einen Preis errungen habe: „Die stattliche Ziegenschar ließ es sich an ihrem Festtag nicht nehmen, selbst Herrn Stadtinspektor Kerkhoff freundlich anzumeckern, der im Namen der Stadtverwaltung erschienen war.“  

In der Tat, die Ziege spielte in Borbeck eine – wenn auch nicht immer unproblematische – wichtige Rolle. Mit ihr sind viele Erinnerungen verbunden. Eine lustige Geschichte, in der Ziegen und Franz vorm Walde bedeutende Rollen spielten, hat Hermann Hagedorn erzählt. Es geht, dass Franz vorm Walde seine Kirchenchorkollegen vor Konzerten zur besseren Intonation mit Salmiakpastillen versorgte, für diesen selbstlosen Dienst aber nie ein „Dankeschön“ bekam. Daraufhin beschloss er, den Männern des Frintroper Kirchenchors eine Lektion zu erteilen. Als Tag der Rache hatte er sich Weihnachten ausgesucht.

Was in St. Josef geschah, kann der geneigte Leser auf Plattdeutsch und – falls erforderlich – auch auf Hochdeutsch erfahren. Viele Vergnügen an der Frintroper Ziegengeschichte!

[…] Dann wo’t Tied vö de Uchte. De Klocken lüen Wiehnachten. Franz pock sick op. En Dübelslachen gong öwer sin Gesich. Nu wo’t sowiet. ’n Kärkenchor stonn proot. Willem bue dän Takstock op, öm A.A.Knüppels Mestersatz „Et in terra pax hominibus“ brusen de loten. „Willem, wach!“ flispern Franz, „de Pastillen!“ Willem satt dän Takstock aff. On dann gong dät Döösken rond - - - As Willem dän Stock wi opbüren, keck hä en lauter västöete Gesichter. On affgronddeipe kom et ut dän twedden Bass: „Et woren Hibbenköttels, git Donnerkiels!“ En düsen Oogenblick entoneeren Monsignore G. met Wiehnachsenbrons: „Gloria in excelsis deo!“ „Et in terra pax“ - - begonn dän Chor, dann wo’t am Enne. Pax hominibus gong en Kröchzen on Spe’en onner. So haa Franz vorm Walde Knüppels schönste Gloria met eenen Hibbenköttel kapot gemack.

Und hier nun die Übersetzung von Franz Josef Gründges. Zur Erläuterung: Bei Monsignore G. handelt es sich um Johannes Gatzweiler, von 1890 bis 1908 Pfarr-Rektor bzw. Pfarrer an St. Josef. Anton Alexander Klüppel war ein damals recht bekannter Komponist.

[…] Dann war es Zeit für die „Uchte“. Die Glocken läuteten zu Weihnachten. Franz machte sich auf den Weg. Ein teuflisches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Nun endlich war es soweit. Der Kirchenchor stand bereit. Wilhelm hob den Taktstock, um A.A. Knüppels Meistersatz „Et in terra pax hominibus“ erklingen zu lassen. „Wilhelm, warte“, flüsterte Franz, „die Pastillen!“ Wilhelm setzte den Taktstock ab. Und dann ging das Döschen rum. Als Wilhelm den Taktstock wieder anhob, schaute er in lauter verstörte Gesichter. Und mit abgrundtiefer Stimme tönte es aus dem zweiten Bass: „Verdammt, das waren Ziegenköttel!“ In diesem Augenblick stimmte Monsignore G. mit weihnachtlicher Inbrunst „Gloria in excelsis deo!“ an. „Et in terra pax“ setzte der Chor ein, doch dann war es schon zu Ende. Pax hominibus ging in Krächzen und Spucken unter. So hat Franz vorm Walde Knüppels schönstes Gloria mit einem Ziegenköttel kaputt gemacht.

Auch außerhalb Borbecks spielten die Ziegen eine nicht unbedeutende Rolle. Wie zum Beispiel beim Schriftsteller Fred Endrikat (1890-1942), Sohn eines Bergmanns, der seine Kindheit in Wanne und Eickel verbrachte. Von ihm stammt das Liebesgedicht „Die Bergmannskuh“:

„Wenn ich eine Ziege seh‘, /muss ich an zu Hause denken. / Höre ich das traute Mäh, kann ich mich zurückversenken / in die Zeit der bloßen Füße. / Vor mir seh‘ ich Hof und Feld. / Tiere bringen ihre Grüße / aus der bunten Kinderwelt. // Wenn ich eine Ziege seh‘, / denk ich an zerrissne Hosen, / und zum Dank für jedes Mäh / möchte ich ihr den Bart liebkosen. / Friedlich grast die Bergmannskuh / unter Silberbirkenstämmchen. / Gab uns Milch und noch dazu / um die Osterzeit ein Lämmchen. // Die Kaninchen, Täubchen, Entchen, / Stare, Spatzen, groß und klein, / bringen mir ein lustig Ständchen, / selbst der Kater stimmt mit ein. / Lieblich klingt das weiche Mäh, / Heimatklänge mich umschmeicheln. / Wenn ich eine Ziege seh‘, / muss ich hingehn – und sie streicheln.“

Wie schön! Ein Wort noch zur Ziegenstatistik. Beginnend bei 44 Exemplaren im Jahre 1843 soll der Ziegenbestand in Borbeck im Jahre 1880 auf den Höchststand von 1.971 gestiegen sein. Um 1900 war die Blütezeit der Ziegen in Deutschland. Der 1902 gegründete Dortmunder Ziegenzucht-Kreisverband hatte fast 1.000 Züchter-Mitglieder mit ungezählten Ziegen.

Um 1940 sollen noch 5 Millionen Ziegen in Deutschland gemeckert haben, nach dem Krieg ließ das Meckern langsam nach. In den Siebziger Jahren verliefen sich nur noch etwa 40.000 Ziegen auf Deutschlands Wiesen und Weiden. Das Ziegensterben ging auch an Borbeck nicht spurlos vorüber. 1958 gab es einen Tiefstand zu verzeichnen: In ganz Borbecker verliefen sich gerade einmal 14 Ziegen. Es ist nicht zu leugnen: Mit den Bergleuten ist die „Bergmannskuh“ verschwunden. Ihr zur Erinnerung ist in Herne das Denkmal „Bergmannskuh“ errichtet worden.

Die letzten lebenden Exemplare in Borbeck können bei der Veranstaltung „Tiere auf dem Bauernhof“ besichtigt und gestreichelt werden, die der Kultur-Historische Verein Borbeck einmal im Jahr auf dem Steenkamp-Hof am Reuenberg organisiert, wo die kleinen und großen Besucher manch munteres „Mäh“ erwartet.

Franz Josef Gründges

Quellen: Andreas Koerner: Ziegen in Borbeck. In: Borbecker Beiträge 2/1994, S. 34/35.. – Andreas Koerner: Noch einmal – Ziegen in Borbeck. In: Borbecker Beiträge 2 (1996, S. 69-73. – Ludwig W. Woerdehoff: Die Ziege als Bergmannskuh. In: Borbecker Beiträge 1/2014, S. 12. – Hermann Hagedorn: Et in terra pax (Prosatext). Privatarchiv F.J. Gründges.

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Kommentare

Kommentar von Andreas Koerner |

Hierzu steht etwas in den Jugenderinnerungen von Willi Schlüter:
"Neben seinem Lehramt bekleidete Lüttemann noch den Posten des Vereinsvorsitzenden im Ziegenzuchtverein. Hippe, und später auch Bergmannskuh, hießen die Ziegen damals. Auf dem Reuenberg, weithin sichtbar, lag nach beim Lepping's Kotten die Bockstation. Dorthin eilten Ziegenhalter von Zeit zu Zeit mit ihren Tieren. Jedes Kind kannte die Bockstation, doch wusste keines der Kinder zu sagen, was dort geschah. Nur der Gestank, den die gedeckten Ziegen von der Station mit zurückbrachten, lag bei windstillem Wetter noch lange in der Luft."
(aus: Borbecker Halblang. Jugenderinnerungen von Willi Schlüter, Teil 1, Borbecker Nachrichten 1/1973)

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