Zeitreise: Schuh-Geschichte(n) aus Borbeck

Aus langer Handwerkstradition

0 06.10.2019

BORBECK. Seit Tagen hängen sie über Straßen in Borbeck, seltsam bunt baumeln sie im Wind: Schuhe sind es, die auf den BORBECKER BUMMEL aufmerksam machen. Eine Aktion, zu der gleich drei Initiativen am Sonntag, 6. Oktober, von 13-18 Uhr ins Borbecker Zentrum einladen: Der Borbecker Bürger- und Verkehrsverein, der Initiativkreis Centrum-Borbeck und der Kultur-Historische Verein Borbeck möchten gemeinsam dazu bewegen, zwanglos durch Borbeck zu bummeln und das Stadtteilzentrum einmal ganz neu zu entdecken! Das ist das erklärte Ziel der Veranstaltung „Borbecker Bummel“. Alles wird sich in spielerischer Form um Schuhe drehen: An sieben Spielorten vom Bahnhof Borbeck bis zum Germaniaplatz gibt es ein familienfreundliches Programm, bei dem viel geboten wird. Aber warum Schuhe?

Borbeck ist die Schuhhauptstadt Europas

Sie gelten den Veranstaltern „als Zeichen für Bewegung und neuen Schwung, Begegnung und Miteinander in Borbeck“ - ein großer Einsatz für die Zukunft in Essens größtem Stadtteil. Und sie haben vielleicht sogar mehr mit dessen Geschichte zu tun, als manche auf den ersten Blick denken. Natürlich wird vielen zunächst einfallen, dass immerhin der größte Schuhhändler und Marktführer Europas just aus Borbeck kommt: 1913 eröffnete Heinrich Deichmann in der heutigen Johannes-Brokamp-Straße sein Geschäft „Schuhreparatur Elektra“ und 1936 am Borbecker Markt sein erstes großes Schuhgeschäft. Gut 100 Jahre nach der Firmengründung zählt die an der Aktienstraße ansässige Deichmann-Gruppe heute rund 41.000 Mitarbeiter in 26 Ländern und hat 2018 weltweit mehr als 178 Millionen Paar Schuhe verkauft. Und das wäre ja schon Grund genug, um überall Schuhe in die Fußgängerzone zu hängen.

Spuren in die Geschichte

Doch was möglicherweise wenige ahnen: Die Region hatte schon traditionell durchaus Bedeutung in der Lederindustrie. Das dafür benötigte Grundmaterial jedenfalls gab es in ausreichender Menge: Die intensive örtliche Schweinezucht stellte es bereit. Mitteilungen zeugen von Weidegründen in der feuchten Vogelheimer Mark, die wie die Wälder ringsum für die Schweinemast ideale Bedingungen bot. Dass sie sicher eine hohe Bedeutung hatte, macht die Borbecker Pfarrchronik deutlich: Im Zusammenhang mit Plünderungen der Kirche wird berichtet, dass ausgerechnet in der Sakristei das mit einer Kette gesicherte Zucht- und Herdbuch der Schweinezüchter in der Bauerschaft aufbewahrt wurde.

Sie vertrauten in Borbeck aber nicht nur auf feste Mauern, die ihren kostbaren Besitz beschützten: Gleich neben der Sakristei, die damals von der Kirchplatzseite aus betreten wurde, lag im vorderen Innenschiff der Kirche auf der rechten Seite ein Seitenaltar, der dem Hl. Antonius Eremita (251-356) gewidmet war. In diesem Patrozinium für Antonius den Großen, auch Antonius Abbas genannt, steckt ein weiterer deutlicher Hinweis auf diesen örtlichen Wirtschaftszweig, denn der durch manche Legenden populär gewordene frühchristliche ägyptische Wüstenvater galt jahrhundertelang als der ganz besondere Schutzpatron des Borstenviehs. Seit dem 9. Jahrhundert schon wurde der fromme Einsiedler als Bauernpatron zunehmend in der ganzen Region verehrt – in der Borbecker Kirche bekam er sogar einen eigenen Altar, der ihm geweiht war.

„Schwienetüns“ in Borbeck

Heute erinnert dort an ihn übrigens nichts mehr, wohl aber in Schönebeck: Denn der Borbecker Altar besaß auch eigene Äcker und Wiesen, die zur „Antonius-Vikarie“ gehörten. Aus ihr bezog der jeweilige Vikar der Pfarre seine Einkünfte. Ein sehr bekannt gewordener Vikar an St. Dionysius war ab 1895 Kaplan Heinrich Brauns, nach dem die Straße an der Dampfbierbrauerei benannt ist. Der engagierte Kämpfer für Arbeiterrechte bewies damals wahrlich auch Sinn für Geschichte, als er den Kirchbauverein für die wachsende Bergarbeitergemeinde in Schönebeck begründete: Die spätere Pfarre St. Antonius Abbas übernahm den Namen des „Schwienetüns“ Antonius und setzte so einen Teil der Ortsgeschichte fort. Als schließlich der neue Kirchenbau mit großen Mühen in Schönebeck vollendet war und am 8. Mai 1927 die Kirchweihe gefeiert wurde, feierte der damalige Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns dort die erste Messe – in all seinen politischen Verpflichtungen war die Kirche unter diesem Patronat eines seiner Lieblingsprojekte.


Der Plan der abgerissenen alten Dionysiuskirche verzeichnet zwei Figuren an den Säulen: Crispinianus (l.) und Crispinus (r.)

Noch zwei rätselhafte Heilige

Stand der Heilige Antonius für die Sorge um das Wohl und Wehe des Viehs, so weisen aber noch weitere Spuren in der alten Borbecker St. Dionysius-Kirche darauf hin, was man mit dem aus der gegerbten Haut gewonnenen Schweineleder ganz praktisch anstellte. Sie sind auf einem Plan der Kirche zu entdecken, der ihren Zustand vor dem Abriss 1860/61 zeigt. Denn an den beiden Säulen, die das Kirchenschiff stützten, gab es dort zwei Figuren, die ganz ausdrücklich für das Schuster- und Gerberhandwerk stehen: Es waren Statuen der frühchristlichen Heiligen Crispinus und Crispinianus, die mit dem Bau der heutigen Kirche leider verschollen gingen. Die beiden waren die Schutzpatrone für die Schusterzunft, die einzige Zunft überhaupt, die für Borbeck verzeichnet ist. Sie hatte alljährlich zum Hochfest ihrer Heiligen am 25.Oktober 15 Stüber und 2 Reichstaler für Kerzenwachs an die Dionysiuskirche zu entrichten, wie für das Jahr 1784 überliefert ist.

Heilige Schuhmacher

Auch wenn die Namen von Crispin und seinem Bruder Crispinianus heute sicher vielen seltsam in den Ohren klingen mögen: Frühere Jahrhunderte wussten durchaus etwas mit ihnen anzufangen. Die Geschichte dieser Märtyrer im frühen Christentum reicht bis ins 3. Jahrhundert zurück. Die Söhne einer vornehmen römischen Familie flohen vor der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian aus Rom nach Soissons im heutigen Nordfrankreich. Dort verdienten sie nach den überlieferten Legenden ihren Lebensunterhalt als Schuhmacher, Arme mussten für die Schuhe nichts bezahlen und sie gewannen bis zu ihrem Tod um das Jahr 287 viele für den Glauben. In Soissons entstand über ihrem Grab eine große Kirche, Reliquien wurden schon 570 durch die Franken ins heutige Saarland gebracht und dort in den Altar der neu geweihten Kirche in Saarlouis eingemauert. Weitere kamen 803 unter Karl dem Großen als Gründungsheilige nach Osnabrück, das zum Zentrum ihrer Verehrung in Europa wurde und beide erscheinen auch bald in den Festtagskalendern von St. Gallen und Köln. Von Rom aus, wo man in der Kirche San Lorenzo in Panisperna ihre Köpfe aufbewahrt, kamen weitere Reliquien von Crispin und Crispinianus 838 nach Fulda. Und ihre Geschichte, in denen zudem drastisch ihre Folter beschrieben wird, verbreitete sich sehr schnell auf dem ganzen Kontinent.

Zünftige Patrone

Auch bis nach Essen strahlten die Patrone der Schuhmacher, Sattler, Gerber und Handschuhmacher aus. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt das Zunftwesen. In der Stadt sind seit dem Jahr 1400 die Statuten der Zünfte schriftlich überliefert, durch die Kaufleute und Handwerker in klare Regeln eingebunden sind. Die ältesten überlieferten Statuten des Schusteramtes datieren aus dem Jahr 1544: Die Pergamenturkunde für die „schoemecker gilde-broederenn“ war mit dem großen Siegel der Stadt versehen. Die Mitgliedschaft in der Gilde war allein Einwohnern der Stadt vorbehalten, die Satzung bestimmte die Beiträge, die Zunftordnung und Aufgaben der Gildenmeister, die Lehrordnung sowie Fragen der Herstellung und des Verkaufs. Aber die Artikel regelten auch die religiöse Bindung der Zunft, wie sie bei den anderen Zünften ebenfalls üblich war. Und hier kommen auch die beiden antiken heiligen Schuhmacher wieder ins Spiel.

So hatte der regierenden Amtsmeister drei Tage vor dem „Pflichtstag“, zum „sunth Crispinens dach“ am 25. Oktober, die Pflicht, das ganze Amt zu befragen, ob es Streit oder Misshelligkeiten gebe. Sie sei „wo möglich gütlich abzuthun, damit die folgende Zusammenkunft des Amts möge in Friede und Freundschaft angefangen und vollendet werden.“ Zur jährlichen Hauptversammlung auf Crispinus sollte das Amtsbuch allen deutlich vorgelesen werden und die Schustergilde stiftete mit der „Staelkersse“ eine Kerze für die Kirche, die auf einem besonderen Leuchter vor dem Bilde ihres Schutzheiligen aufgestellt wurde.

1776: Schusterzunft in Borbeck

Eine Schusterzunft bestand jedoch nicht nur in der Stadt. Es gab noch zwei weitere im eigentlichen Stift Essen: Zum einen die Schusterzunft für die Stadt Steele, das Steelische Quartier und die Bauerschaft Stoppenberg, zum anderen die Schusterzunft für das Borbecker Quartier „(Borbeck, Betingrade, Mülhoven, Frintrop, Delwig, Gerschede, Vogelheim, Bochholt)", die Bauerschaft Altenessen und die „drei Bauerschaften" (Altendorf, Holsterhausen und Frohnhausen).

Die Schuster in der Stadt Steele und den nächstliegenden Orten wurden am 18. Januar 1751 durch Fürstäbtissin Francisca Christina zu einer Zunft privilegiert. Ihre Statuten erneuerte Fürstäbtissin „Maria Cunigunda von Gottes Gnaden Königl. Princessin in Pohlen und Lithauen, Hertzogin zu Sachssen, des heil. Röm. Reichs Fürstin und Abtissin der Kayserl. freyweltlichen Stiftes Essen und Thorn...“ zum 30. September 1776 fast wörtlich. Zugleich bestimmt die Fürstin am 2. Oktober 1776: „Auf Bitten der in dem Borbeck'schen Quartier und in den drei Bauerschaften, wie auch in der Bauerschaft Altenessen wohnenden Schuster willfahrt, dass sie ein Ammt ausmachen und sich nach folgender Zunftordnung richten sollen."

Drei Meisterstücke sind gefragt

In dieser Ordnung finden sich nun die Bestimmungen, die die inneren Verhältnisse des Berufsstandes auch im Borbeckschen Quartier ordnen: Es sind zwei Jahre Lehre zu absolvieren, dafür sind dem ältesten Zunft-Meister 15 Stüber zu zahlen und der „Borbeck'schen Kirche" - St. Dionysius - ein Pfund Wachs für die Kerzen zu zahlen. (§1) Nach Ablauf der Lehre hat der Lehr-Geselle den Ort zu verlassen und darf zwei Jahre lang nicht mehr zurückkommen. (§2) Gegenseitige Abwerbung von Lehrjungen und Gesellen ist verpönt: Sie müssen zuvor erst bei ihrem Meister einen „redlichen Abschied“ nehmen.

Den Beruf ausüben dürfen das Handwerk „im Borbeck'schen Quartier, in den drei Bauerschaften und Bauerschaft Altenessen", nur die zur Zunft gehörigen Meister (§4) und solche, die „bei einem unter dieser Zunft gehörigen Meister" gelernt und ein Meister-Stück angefertigt haben. Als solche zählen ein „Manns-Schue, ein Frauen-Schue und ein Frauen-Pantoffel“ ohne Absatz und Kappe (Schluffen), die zusammen in 18 Stunden zu verfertigen sind. Die Stücke müssen „von den Zunfftmeisteren und sämbtlichen Bruderschaft für genugsam approbirt, und demnegst die Zunftt von denen Zunfft-Brüderen rechtlich gewonnen, welches solle geschehen mit acht Reichs-Thaler“. (§5) Auch sollen diejenigen, die Felle gerben sowie im Materialeinkauf und -verkauf tätig sind, der Zunft angehören. (§8) Wer gegen die Zunftordnung verstößt, hat Strafen zu zahlen. In Artikel 10 erklärt Fürstäbtissin Maria Cunigunda: „Endlich wäre der Ambtstag auf St. Crispins-Tag als Patron anzusetzen“ – gemeint ist der 25. Oktober, an dem Crispinus und Crispinianus auf dem Römischen Heligenkalender stehen .

Ende eines Zeitalters

Nur wenige Jahrzehnte später war es aber schon mit der Ordnung wieder vorbei: Nach der Französischen Revolution war der Zunftzwang auch im deutschsprachigen Raum stark eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Die Preußen kamen, die frühe Industrialisierung nahm ihren Gang und Borbeck wurde zur Wiege des Tiefbergbaus, als Franz Haniel 1832-34 in Schönebeck den ersten Tiefschacht durch das Deckgebirge abteufte. Die Bevölkerungszahlen stiegen rasant, zahllose Arbeitsmigranten strömten in die Region, die bäuerlichen Traditionen traten in den Hintergrund und innerhalb weniger Jahre entstanden Zechen, Walzwerke, Hütten und Ziegeleien. Die alten Patrone des Handwerks brauchte niemand mehr und sie gerieten in Vergessenheit. Die Dionysius-Kirche, die bis dahin einzige in der Gegend, wurde 1862/63 durch einen für die Zeit riesigen Neubau im modernen neugotischen Stil ersetzt, fast ihr ganzes Inventar verschwand dabei spurlos – auch die Figuren und Altäre, die Zeugnis von der Vergangenheit geben könnten.

Lediglich der 1860 gegründete Katholische Gesellenverein Borbeck, der sich wie seine Brudervereine überall um die wandernden Gesellen kümmerte, knüpfte an alte Traditionen an: Noch heute wird in der Kolpingfamilie Borbeck, einer der ältesten von rund 2.600, im Kolping-Traditionslied an das ehrbare Schusterhandwerk erinnert. Gemeint ist allerdings ihr Gründer, der Kölner Priester Adolph Kolping, der zuvor selbst das Schuhmacherhandwerk erlernt hatte und „auf der Walz“ gewesen war.

Ein seltsamer Zufall der Geschichte übrigens:  Ausgerechnet am Festtag der aus Borbeck verschwundenen Schusterpatrone Crispinus und Crispinianus, vor fast genau 75 Jahren, am 25. Oktober 1944, wurde die Dionysiuskirche bei den den schweren Luftangriffen der Royal Airforce durch zwei Luftminen fast vollständig in Schutt und Asche gelegt - lediglich der Turm blieb fast unzerstört.

Beschließen wir nun unsere kleine Reise durch die Zeit: Die Borbecker Schweinemast ist Geschichte, ihr Patron Antonius Abbas ist in Schönebeck gelandet, die Schusterzunft ist erloschen, ihre Schutzheiligen sind verloren und vergessen. Dabei passen sie doch sogar zum „Borbecker Bummel“ am kommenden Sonntag, der ganz im Zeichen von Schuhen steht: Die miteinander verwandten Namen „Cripinus“ und „Crispinianus“ werden aus dem Lateinischen mit „Der Fröhliche, Heitere, Unbeschwerte oder Kraushaarige“ übersetzt. Fröhlich und heiter soll es ruhig werden – eine krause Idee, die sicher viele überraschen wird!

Christof Beckmann

Quellen:
Die Statuten der Schusterzünfte im Hochstift Essen vom Jahre 1776. Mitgeteilt aus einer Abschrift im Königlichen Staatsarchiv zu Düsseldorf. In: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, hg. v. Historischen Verein für Stadt und Stift Essen, 8. Heft: Die Statuten der früheren Gilden, Ämter und Zünfte binnen der Stadt Essen, mitgeteilt von Dr. Büscher, Amtsrichter zu Essen, Essen, Druck von G.D. Bädeker, 1884, 104-107.
Hedwig Röckelein: Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter. Beihefte der FRANCIA, hg. vom Deutschen Historischen Institut Paris, Band 48, Jan Thorbecke Verlag Stuttgart 2002.
Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, hg. im Auftrag des Arbeitsausschusses der Ausstellung „Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr“, von Kurt Böhner; Victor H. Elbern, Eduard Hegel, Franz Petri, Hermann Schnitzler, Franz Steinbach, Hans Thümmler, Albert Verbeeek, Joseph Hoster, Textband 1, Schwann, Düsseldorf 1964

Bild unten: Der vollständige Grundriss der alten Dionysius-Kirche mit der Lage der Altäre und Figuren. „Gezeichnet nach den Angaben des Herrn Bauunternehmers Johann Heinr. Pothmann, Essen-Borbeck, den 28. Januar 1918."

Bild unten: Seitenansicht der Dionysiuskirche vom September 1850, aquarellierte Zeichnung im Blick von Norden aus

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