Vor 65 Jahren: Borbeck schreibt Industriegeschichte.

Krupp-Rennverfahren nimmt seinen Betrieb wieder auf

0 04.07.2024

BORBECK/BERGEBORBECK. Eine Pferderennbahn in Borbeck? An der Bottroper Straße 630? Wer den Briefkopf liest, könnte leicht auf diesen Gedanken kommen.

Aber „Rennanlage“ und „rennen“ leiten sich hier von „zum Rinnen bringen“ ab. Darunter versteht man – wie man in Lexika lesen kann - industrielle Verfahren, bei denen das Eisen unmittelbar aus dem Erz als schmiedbares Eisen gewonnen wird. Es handelt sich also um einen Begriff aus der Eisenhüttenkunde. Die „Rennanlage“ führt uns folglich in die Industriegeschichte von Borbeck.

Doch der Reihe nach.

Entstehungsgeschichte

Auf dem Areal, das sich heute etwa zwischen der Bottroper Straße, dem Sulterkamp, der Hafenstraße und dem Rhein-Herne-Kanal erstreckt, begann sich noch vor Ende des Ersten Weltkriegs das Kruppsche Hüttenwerk zu entwickeln. Mit dem 1929 in Betrieb genommenen Hochofen wurde ein Hüttenwerk fertig gestellt, das zu den modernsten in Europa zählte.

Hüttenwerk Borbeck

Das neue Verfahren

Allerdings erwies sich, dass die Hochöfen die deutschen sauren und eisenarmen Erze nicht verhütten konnten und deshalb auf eisenreiche ausländische Erze sowie Schrott angewiesen waren.

Aus diesem Grund machte sich der Metallurge Friedrich Johannsen – Professor an der damaligen Bergakademie und heutigen Technischen Universität Clausthal im Harz - die aus der industriellen Frühgeschichte gewonnenen Erkenntnisse der Eisengewinnung („Rennarbeit“) zunutze. Sein Ziel: Die Aufbereitung der eisenarmen deutschen Erze für die Verhüttung.

Dazu begann Friedrich Johannsen noch im Jahr der Inbetriebnahme des Borbecker Hochofens mit Versuchen, die er im Magdeburger Grusonwerk der Fried. Krupp AG vornahm.

In einem wissenschaftlichen Beitrag für die Fachzeitschrift „Stahl und Eisen“ stellte er im Jahr 1934 die Ergebnisse seiner Forschungen vor. Sie wurden zur Grundlage für das „Krupp-Rennverfahren“.

Das Prinzip in vereinfachter Darstellung: Eine Mischung aus Erz und Brennstoff durchläuft den bis zu 110 Meter langen und im Durchmesser 4,6 Meter großen Drehrohrofen. Dieser ist schwach geneigt. Das Durchlaufen bei Temperaturen von 600 bis 1.000 Grad Celsius dauert bis zu 12 Stunden. Die Drehbewegungen unterstützen die spätere Trennung der entstehenden Schlacke von den Eisenklumpen, die Luppen genannt werden. Die Trennung des halbweichen Austrags erfolgt nach Kühlung durch Luft oder Wasser. Anschließend werden die Luppen auf Millimetergröße zerkleinert. Die so erzeugten Luppen sind als Rohstoff für die Stahlgewinnung besonders geeignet. Erforderlich: der Bau einer „Rennanlage“.

Von der Theorie zur Praxis: Die Rennanlage in Borbeck

Die personellen und infrastrukturellen Voraussetzungen für den Bau einer Rennanlage sah Friedrich Johannsen im Hüttenwerk Borbeck gegeben. Unter den Hüttenarbeitern gewann er kompetente Fachleute. Die nach seinen Vorstellungen errichtete Rennanlage ging im Jahr 1935 in den Regelbetrieb.

Damit schrieb Borbeck Industriegeschichte.

Der Drehrohrofen hatte zwar nur eine Länge von 50 Metern und einen Innendurchmesser von 3,6 Metern, konnte aber täglich zwischen 275 und 300 Tonnen Erz bearbeiten.

Der Borbecker Anlage folgten noch im selben Jahr die Rennanlage der Schlesischen Nickelwerke in Frankenstein sowie Werke in Salzgitter-Watenstedt, im tschechischen Königshof, in der Mandschurei und in Japan.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hüttenwerk und Rennanlage zur Tilgung der Reparationsschulden demontiert.

Die Nachkriegsentwicklung: Die Rennanlage Rhein-Ruhr GbR

Um sich von den teuren hochwertigen schwedischen Erzen und dem sehr konjunkturempfindlichen Schrott unabhängiger zu machen, griffen deutsche Hüttenwerke die nach Kriegsende zunächst unterbrochene Luppen-Produktion wieder auf.

So wurde im niedersächsischen Salzgitter-Watenstedt im Jahr 1956 eine neue Rennanlage in Betrieb genommen. Auch international - etwa in Griechenland und Spanien – setzte man auf das erfolgreiche Borbecker Krupp-Rennverfahren.

Da sich dieses Verfahren im Regelbetrieb bewährte, plante man zusätzlich eine Großanlage. Dazu eignete sich das verkehrsgünstig gelegene Gelände des demontierten Hüttenwerks Borbeck, das über einen Bahnanschluss und einen Stichkanal zum Rhein-Herne-Kanal verfügte.

Das amtlich vorgeschriebene Bauschild für die Rennanlage Rhein-Ruhr GbR (Bild rechts)

Für die tägliche Bearbeitung von rund 4200 Tonnen an Rohstoffen wurden sechs Drehrohröfen in der ursprünglich konzipierten Größenordnung gebaut.

Zur Anlage gehörten Ent- und Verladeeinrichtungen sowie Vorratsbunker für die Roh- und Brennstoffe. Die Anlage nahm als Rennanlage Rhein-Ruhr GbR im Juli 1959 ihren Betrieb auf.

Die Rennanlage Rhein-Ruhr GbR

Rennanlage Rhein-Ruhr und der Umweltschutz

Ein erheblicher Teil der Baukosten wurde für die Installierung von Filteranlagen ausgegeben, hatte man doch bei dem Bau der Anlage versprochen, einen „blauen Himmel über Borbeck“ zu sichern. Aber genau das Gegenteil trat ein. Der Himmel über Borbeck verfinsterte sich. Die Filteranlagen kamen auf keine genügende Leistung. Die Werksleitung arbeitete fieberhaft daran, das Übel abzustellen. Schon im Jahr der Inbetriebnahme fand im Spätsommer 1959 eine Bürgerversammlung statt. „Dellwig zieht vom Leder“ titelten die Borbecker Nachrichten.

Bürgerversammlung mit Dr. Clemens Schmeck

Denn der Dellwiger Bürger- und Verkehrsverein erstattete Anzeige gegen die Hüttenwerke Oberhausen AG (HOAG). Auch gegen die Rennanlage Rhein-Ruhr leitete man juristische Schritte ein. Deren Leitung bestätigte, dass fast 6 Millionen DM in neue Filteranlagen investiert worden waren, ohne dass sich die damit verbundenen Hoffnungen erfüllt hätten.

Die Filteranlagen wurden in ihrer Kapazität verstärkt, sogar die Produktion wurde gedrosselte. Aber nur langsam arbeiteten die Filter besser, so dass die ursprünglichen Belastungen erst mit der Zeit dann doch erheblich zurückgingen.

Wirtschaftliche Turbulenzen und Aus für die Rennanlage Rhein-Ruhr

Die optimistischen Prognosen für eine Rentabilität der Rennanlage in Borbeck erhielten schon bald erhebliche Dämpfer. Der Markt schlug nämlich um. Denn die schwedischen Grubenbesitzer boten ihr höherwertiges Erz zu immer niedrigeren Preisen an.

Als darüber hinaus im Sommer 1961 die Stahlkonjunktur einbrach, kamen die sieben größten Eisenhütten des Reviers im Jahr 1962 überein, von Beginn des Jahres 1963 an kein einheimisches minderwertiges Erz mehr zu beziehen und nur noch Auslandserze zu verhütten. Darüber hinaus minderte die Entwicklung des Schrottpreises auf dem Weltmarkt die Rentabilität der Rennanlagen.

Der Rennanlage drohte das Aus. Die Borbecker Nachrichten dazu:

„Es wäre ein bedauerliches Zusammentreffen der Ereignisse, wenn der Rennanlage Rhein-Ruhr die Sterbestunde in einer Zeit schlüge, in der sie ihre Kinderkrankheiten überstanden hat. Der Verlust von Arbeitsplätzen und die Verringerung des Industriepotentials wären zurzeit nicht leicht wettzumachen.“

Dennoch fassten vor dem Hintergrund sinkender Rentabilität die Gesellschafter der Rennanlage am 8. Februar 1963 den Beschluss, die Rennanlage Rhein-Ruhr noch im selben Jahr stillzulegen, so dass 380 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verloren.

Die Rennanlage Rhein-Ruhr wurde nicht sofort abgebaut. Eine kleine Mannschaft von Fachleuten hielt das Werk betriebsbereit, um für den Fall günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen mit der Produktion sofort beginnen zu können.

Auf dem Bild rechts  vor den Drehrohröfen von li. nach re. die letzte Belegschaft der Rennanlage Rhein-Ruhr: Willy Piefko, Frau Neumann, Felix Sykorra, Dr. Raimund Pientka, Frieda Vogelwiesche, Hans Kaczmarek, Anton Schäfer, Paul Rielinger

Im Ausland war diesbezügliche Borbecker Kompetenz weiter gefragt. Mit Drehrohröfen arbeitende Betriebe etwa in Spanien und Sardinien forderten Fachleute der Rennanlage Rhein-Ruhr immer wieder an.

Auch für die Forschung blieb das Werk an der Bottroper Straße interessant: Studenten der Metallurgie – sogar aus England – ließen sich durch das still gelegte Werk führen und sich über das Krupp-Rennverfahren informieren.

Doch die Rennanlage Rhein-Ruhr nahm ihre Arbeit nicht wieder auf. Sie wurde an ein französisches Unternehmen verkauft, das verwertbare Teile veräußerte und den Rest verschrottete.

Danach blieb das Areal industriell zunächst ungenutzt. In dieser Zeit entstanden auf Teilen des ehemaligen Werksgeländes Biotope.

Jahre später begann mit der Aluminiumhütte – heute Trimet Aluminium SE – eine neue industrielle Nutzung des Geländes, das sich danach allmählich zum heutigen gemischten Gewerbe- und Industriegebiet („Econova“) entwickelte.

 

Ein letzter melancholischer Blick von Felix Sykorra auf das still gelegte Werk. Als Betriebsingenieur hatte er die Rennanlage in Borbeck, Salzgitter, Spanien, Sardinien und wieder in Borbeck begleitet.

Wolfgang Sykorra

Quellen:

Friedrich Johannsen, Das Krupp-Rennverfahren, in: Stahl und Eisen. Zeitschrift für das deutsche Eisenhüttenwesen, 54. Jahrgang, Heft 38 (1934), S. 974, 976

Felix Sykorra, Damals (bei Krupp) an der Bottroper Straße, in: Borbecker Nachrichten vom 2. November 1979 und 9. November 1979

Wikipedia-Artikel „Krupp-Rennverfahren“ und „Eisenschwamm“ – jeweils abgerufen am 30. Juni 2024

Diverse Zeitungsartikel

Abbildungen / Bild-Nachweise: 1, 3, 5, 7, 8: Privatarchiv Sykorra 2, 6: borbeck.de 4: Borbecker Nachrichten



 

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 3 plus 7.