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0 06.09.2024
ESSEN. Einen „Verfall der Sitten“ konstatiert die „Essener Kriminalstatistik“ in der ESSENER ALLGEMEINEN ZEITUNG: „Weite Bevölkerungskreise sind der Immoralität überliefert worden aus Hunger, aus Wohnungsnot, aus Verzweiflung, sei es, daß sie mit den bestehenden politischen Einrichtungen unzufrieden, sei es, daß sie in ihrem Erwerbszweige keine Aussicht auf ein günstigeres Fortkommen vorzustellen vermochten.“ Nicht unwesentlich habe zur Verwilderung der Sitten auch der Krieg beigetragen, so der Bericht, und folgert mit Blick auf die für viele prekäre Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Lage: „Wenn jahraus jahrein ein Volk zum Nichtstun, zum Müßiggang verdammt ist … Müßiggang ist aller Laster Anfang. Und nicht die wenigsten Verbrechen und Vergehen sind aus Müßiggang geboren.“ (EAZ, 26.06.1924, S.3)
Nachweis für den „moralischen Verfall“ und eine gestiegene Aggressivität seien danach nicht nur die gestiegenen Eigentumsdelikte und Missbrauchsverbrechen, sondern auch die dokumentierten tätlichen Auseinandersetzungen mit Todesfolge, deren Aufklärung von der Polizei kaum garantiert werden konnte - sie war nach dem Ersten Weltkrieg jetzt erst mit modernen kriminaltechnischen Erkenntnissen im Neuaufbau. Tatsächlich schnellen die Daten zur „Kriminalitätsstatistik des Deutschen Reichs 1882-1936. Abgeurteilte nach Deliktarten, Häufigkeit einzelner Straftaten, verhängte Strafen“ ab 1920 durchweg deutlich in die Höhe.
1923 wurden wegen Verbrechen und Vergehen gegen die Reichsgesetze mehr als 1,1 Millionen Menschen angeklagt. Für das folgende Jahr vermerkt der Essener Strafanstaltsdirektor Dr. Schmidt in der ESSENER VOLKSZEITUNG, dass reichsweit „zunächst ein erfreulicher Rückgang der Kriminalität“ festzustellen sei – u.a. wirkte sich dabei wohl die Hochsetzung der Strafmündigkeit von 12 auf 14 Jahre aus. Eigentumsdelikte gingen stark zurück, dagegen stiegen namentlich schwere Gewalttätigkeiten (Mord, Totschlag, Raub, Erpressung), bei Landfriedensbruch und bei Sittlichkeitsstraftaten: „Als weitere Verbrechenskategorie mit ansteigender Kurve stellen sich die Straftaten dar, deren Ausführung mit besonderer Rücksichtslosigkeit, Roheit und Nichtachtung des Menschenlebens verbunden ist“, beschrieb Dr. Schmidt die Lage. Gestiegen seien die Anklagen „wegen gefährlicher Körperverletzung, insbesondere mittels Messers 25.078 (24.689).“ („Die Kriminalität des deutschen Volkes“, 59. Jg., Nr. 353, 23.12.1926)
Auch in Stadt und Kreis Essen bildet sich diese Entwicklung ab: Allein eine Recherche für das ganze Jahr 1924 verzeichnet in den täglichen Ausgaben der ESSENER ALLGEMEINEN ZEITUNG (EAZ) unzählige Nachweise für Beziehungstaten, Einbrüche, Raubüberfälle, „Rohheitsverbrechen“, Messerstechereien und tätliche Auseinandersetzungen auf der Straße. Einige wenige haben wir beispielhaft für diese Zeit in der von Andreas Eickholt zusammengestellten und bearbeiteten borbeck.de-Serie „Vor 100 Jahren“ bereits dokumentiert: …
CB
Essener Allgemeine Zeitung (EAZ), Donnerstag, 13. Dezember 1923. Ausschreitungen übelster Art, die unter der Einwirkung allzu reichlich genossenen Alkohols begangen worden sind, beschäftigten gestern die Strafkammer in einer Verhandlung gegen den Schachtmeister Michael Pesch aus Essen-West.
Der Angeklagte befand sich am Abend des 7. April in stark angetrunkenem Zustande in der Gastwirtschaft Esser an der Altendorfer Straße und suchte die Gäste zu belästigen. Unter diesen befanden sich auch die Schlosser Heinrich Sievers und Gerhard Ernst. Beide verließen die Wirtschaft, als sie merkten, dass der Angeklagte auch mit ihnen Händel anfangen wollte. Sie hielten sich aber noch eine Weile vor dem Lokal auf. Mittlerweile verließ auch der Angeklagte die Wirtschaft. Als er die beiden Leute draußen erblickte, zog er das Messer, fuchtelte damit in der Luft herum und rief ihnen drohend die Worte zu: Kommt heran, ihr Lumpen, wenn ihr Mut habt! Die Leute gingen dann auf den Angeklagten zu, der sofort auf Sievers mit dem Messer losstach und ihn an der Hand verletzte.
Als Ernst seinem Freunde zu Hilfe eilen wollte, wurde auch er von dem Angeklagten mit dem Messer angefallen. Er erhielt einen Stich in die Schulter. Inzwischen hatte sich Sievers wieder gegen den Angeklagten gewandt. Bei dem Handgemenge, das jetzt entstand, stürzte Sievers zu Boden. Der Angeklagte fiel über ihn her, um den wehrlos am Boden liegenden Menschen weiter mit dem Messer zu bearbeiten. In diesem Augenblick kamen andere Personen hinzu, worauf der Angeklagte sich schleunigst aus dem Staube machte und das Messer fortwarf.
Das Schöffengericht hatte den gewalttätigen Burschen wegen gefährlicher Körperverletzung zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt, die Strafverbüßung jedoch gegen Zahlung einer Geldbuße von 50 Goldmark auf 3 Jahre ausgesetzt. Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte Berufung ein. In der Verhandlung vor der Strafkammer suchte er seine Untat mit dem Einwand zu entschuldigen, er sei sinnlos betrunken gewesen. Damit fand er keinen Glauben. Die Strafkammer war der Ansicht, dass die vom Schöffengericht verhängte Strafe noch zu milde ist und verwarf die Berufung auf Kosten des Angeklagten. Die Geldbuße aber wurde auf 80 Goldmark erhöht.
EAZ, 4. Januar 1924. Eine Bluttat in der Neujahrsnacht, der ein Menschenleben zum Opfer fiel, ereignete sich in Bergeborbeck. Dort kam es am Morgen des 1. Januar zwischen 4 und 5 Uhr auf der Vogelheimer Straße in der Nähe des Bahnhofes Bergeborbeck zu einer wüsten Messerstecherei, die sich im Halbdunkel abspielte. Hierbei ist der Bergmann Alfred Schaad aus Borbeck erstochen worden. Der Zwischenfall hat sich ohne Augenzeugen abgespielt und als man Schaad auffand, war er bereits tot. Die Täter haben schleunigst die Flucht ergriffen und sind unerkannt entkommen. Festgestellt ist aber, dass eine bislang nicht ermittelte Frau mit einem Kinderwagen zur Zeit der Bluttat am Tatort vorbeigefahren ist. Möglicherweise ist diese Frau in der Lage, Angaben zu den Vorgang zu machen. Ihre Mitteilungen sind daher von großer Wichtigkeit für die Ermittlungen der Täter. Die Kriminalpolizei sucht nach dieser Frau, die sich zweckmäßig selbst beim 8. Polizeirevier in Dellwig meldet.
EAZ, Mittwoch, 4. Juni 1924. Steele. Blutiger Streit. Die Arbeiter W. und M. kamen aus geringfügiger Ursache in den Ruhrweiden aneinander. W. erhielt einen Messerstich in den Leib und wurde nach Anlegung eines Notverbandes in das Krankenhaus geschafft. Die Verwundung ist lebensgefährlich. Der Täter wurde verhaftet.
EAZ, 14. Juli 1924. In der Nacht zum Sonntag ereignete ereignete sich in der Schlenhoffstraße eine furchtbare Bluttat, der 2 Menschenleben zum Opfer fielen. Eine Schar rauflustiger Burschen fiel ohne jedwede Veranlassung über einen ruhig seines Weges gehenden Arbeiter namens Petereit her. Die Raufbolde stachen auf ihr Opfer blindlings ein. Als der Bruder des Überfallenen zu Hilfe eilte, fielen die Burschen auch über ihn her und bearbeiteten ihn ebenfalls mit dem Messer. Einer der beiden Brüder blieb tot am Platze, während der andere so schwere Verletzungen erlitt, dass er bald nach seiner Einlieferung im Krankenhaus starb. Die Kriminalpolizei nahm sofort die Verfolgung der Täter auf und konnte inzwischen 7 der an dem Rohheitsverbrechen beteiligten Personen festnehmen. Die Messerstechereien nehmen in der letzten Zeit derart Überhand, dass es nachgerade an der Zeit ist, über die Messerhelden die empfindlichsten Strafen zu verhängen.
EAZ, 14. August 1924. Die Überfälle rauflustiger, mit Messer und Dolch bewaffneter Burschen nehmen in der letzten Zeit in bedenklichem Umfange zu. Nachdem erst vor wenigen Tagen im Segerothviertel ein Mann erstochen worden ist, wird jetzt aus Altenessen wiederum ein blutiger Überfall gemeldet. Der ruhig seines Weges gehende Bahnarbeiter Karl Stumm wurde von mehreren gewalttätigen Burschen am Bahnhof Altenessen überfallen und durch 3 Messerstiche lebensgefährlich verletzt. Der bedauernswerte Mann musste zum Krankenhaus geschafft werden.
Es gelang, die rohen Täter zu ermitteln und festzunehmen. Es sind die beiden Arbeiter Anton Koslowski und Josef Limbach. Wie die Feststellungen ergaben, haben sie den schwer verletzten Stumm aus reiner Rauflust auf der Straße angerempelt, um mit ihm in Streit geraten zu können. Die Täter wurden dem Amtsgericht zugeführt. Man muss erwarten, dass die Übeltäter eine exemplarische und abschreckende Strafe erhalten.
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