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0 30.09.2024
Die im Folgenden beschriebenen Ereignisse, Zustände und Probleme liegen über hundert Jahre zurück. Doch kann man sich angesichts der aktuellen politischen Diskussionen und ideologischen Auseinandersetzungen zum Thema Migration und Integration des Eindrucks nicht erwehren, als hole uns die Geschichte (wieder einmal) ein.
Es ist das große Verdienst von Andreas Koerner, auch zur Geschichte der polnischen Bergarbeiter geforscht und umfangreiche Ergebnisse vorgelegt zu haben. Wer nach Informationen zu den polnischen Bergarbeitern und ihren Familien in der damaligen Bürgermeisterei Borbeck sucht, erfährt manches, was vielleicht sogar mit der eigenen Familiengeschichte zu tun hat. Der Verfasser selbst hat eine Schwägerin mit dem Geburtsnamen Korytowski. Sie ist in der Hugostraße im Brauk aufgewachsen, wo ihr Großvater, geboren in der Provinz Posen, Anfang des 20. Jahrhunderts als Bergmann auf der Zeche Levin gewohnt hat. Die Hugostraße weist laut Essener Adressbuch von 1912 vergleichsweise viele polnischstämmige Bewohner auf, die fast alle als Bergmann gearbeitet haben.
Eine (unvollständige) Liste der Familiennamen mag dies illustrieren. Es wohnten 1912 in der Hugostraße u.a. Adamczak, Bilsky, Biontkowski, Borowczyk, Drozdzynski, Gabrielczyk, Gawlusik, Guziolek, Jaksoniak, Jakubowski, Kaczmarek, Kominek, Kowalczik, Kozielski, Lawniczak, Mackowiak, Malczki, Matiseck, Mlowka, Nowakowski, Pamionka, Paroschinsky, Pieszicky, Przybilski, Rakowiecz, Rataiczak, Salaschewski, Schymitzek, Skudlawski, Walczack, Waskowiak, Wisniewski (die Schreibweise des Adressbuchs wurde übernommen). Der Assimilations- und Integrationsdruck, dem sich die polnischen Bergleute und ihre Familien im Beruf und im privaten Umfeld ausgesetzt sahen, veranlasste viele polnische Zuwanderer dazu, ihre Herkunftsnamen einzudeutschen. Grzeskowiak wurde zu Grote, Kaczmarek zu Kammann, Wojciechowski zu Winter, Przbysz zu Priebitz, Rzadkowski zu Radinger und Majrczak zu Maier.
„Masuren! Es kommt der Zeche hauptsächlich darauf an, brave, ordentliche Familien in diese ganz neue Kolonie hineinzubekommen. Ja, wenn es möglich ist, soll diese Kolonie nur mit masurischen Familien besetzt werden. So bleiben die Masuren unter sich und haben mit Polen, Ostpreußen usw. nichts zu tun. Jeder kann denken, dass er in seiner masurischen Heimat wäre.“
So warb die Zeche Victor bei Rauxel um 1890 für ihre Kolonie. Der emotionale Aufruf, unter sich zu bleiben, ist ein Hinweis darauf, dass die Masuren aus dem südlichen Teil Ostpreußens ein besonderes „Völkchen“ waren. Sie galten als brave, nationaldenkende preußische Bürger, sprachen polnisch und waren im Unterschied zu den aus Oberschlesien, der Kaschubei und Ostpreußen stammenden Zuwanderern überwiegend evangelisch. Zentrum der Masuren war Gelsenkirchen. Hier lag ihr Anteil an der Stadtbevölkerung 1910 bei 16,2 %. Nicht zufällig stammten die Familien von Ernst Kuzorra (*1905) und Fritz Szepan (*1907), bekannte Spieler von Schale 04, aus Masuren.
Die Zuwanderer kamen aus Ostpreußen, Westpreußen, Südostpreußen (Masuren), der Provinz Posen und Oberschlesien. Sie unterschieden sich in Konfession (Oberschlesien: katholisch, Masuren: vorwiegend evangelisch) und Sprache (polnisch, „wasserpolnisch“) sowie in der Frage des nationalen Zugehörigkeitsgefühls (Preußen, Polen). Sie waren preußische Staatsbürger und hatten einen deutschen Pass. Als Sammelbezeichnung für die polnischen Zuwanderer ins Ruhrgebiet hat sich in der Forschung der Begriff „Ruhrpolen“ etabliert. Der Anteil der aus den Ostprovinzen stammenden Bergleute betrug kurz nach der Jahrhundertwende knapp 37%. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag bei etwa 9%, erreichte jedoch in Orten wie Bottrop (35%) und Herne (40%) deutlich höhere Werte. In Borbeck waren es nach einer Aufstellung aus dem Jahre 1911 etwa 13%. Das war wohl der Höchststand seit 1898, als der Polenanteil noch bei knapp 5 % gelegen hatte. Die von Andreas Koerner ermittelten Zahlen zeigen die Entwicklung des Bevölkerungsanteils von 1898 bis 1911:
Jahr Borbeck insg. Polen Anteil in %
1898 40 476 1 980 4,89
1900 47 211 2 750 5,82
1904 52 366 3 600 6,87
1906 59 071 6 312 10,69
1911 67 758 8 863 13,03
(Quelle: Koerner, Polnische Bergarbeiter, S. 56)
Die Wohnungsfrage war eines der wichtigsten und drängendsten Probleme. Diese zu lösen war Aufgabe der kommunalen Wohnungspolitik und des Werkswohnungsbaus. Um die Jahrhundertwende gingen Zechengesellschaften vermehrt dazu über, Bergarbeiterkolonien zu errichten, z. B. in Ebel und Vondern. Um die Bergleute an sich zu binden, baute man Wohnhäuser für die Zechenbeamten und Menagen (einfache Logierhäuser) für die Arbeiter. Die Menagen boten nur das Allernotwendigste und lagen nicht selten unterhalb des Minimums für menschenwürdiges Wohnen. Daher gab es hier auch eine hohe Fluktuation. Eine Alternative insbesondere für alleinstehende Arbeiter war das Schlafgängerwesen. Gegen Bezahlung konnte man sich auf beengtem Raum bei Bergarbeiterfamilien einquartieren und deren Hilfe bei Wäsche, Einkauf und Essen in Anspruch nehmen. In den Schlafsälen die Mietskasernen dagegen führten der fehlende Zugang zu fließendem Wasser und der Mangel an sanitären Anlagen oft zu unhaltbaren hygienischen Verhältnissen.
Die Zuwanderer wurden keineswegs mit offenen Armen aufgenommen. So schrieb beispielsweise der Oberpräsident der Provinz Westfalen 1896:
„Die Anhäufung großer Arbeitermassen slawischer Abkunft birgt bedeutende Gefahren. Es handelt sich um Elemente, die dem Deutschtum feindlich gegenüberstehen, sich auf einer niedrigen Stufe der Bildung und Gesittung befinden und zu Ausschreitungen geneigt sind.“ (Heddergott, Ruhrpolen.)
Die polnischen Arbeiter waren in der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse und höheren Lohn ins Ruhrgebiet gekommen. Von den Kommunen wurden sie argwöhnisch und zurückhaltend aufgenommen. Sie hielten es nicht für ihre vorrangige Aufgabe, sich um die Sorgen und Probleme der Zuwanderer zu kümmern. Sie waren dazu auch nicht gesetzlich verpflichtet. Die Zechen wiederum boten den Zuwanderern einen Arbeitsplatz und vielleicht eine Unterkunft. In einer frühen Zeitungsanzeige hieß es:
„Hauer und Schlepper finden auf Zeche Prosper gegen guten Lohn dauernde Arbeit. Für ein gutes Unterkommen in der neu erbauten Menage ist gesorgt.“ (Koerner, Polnische Bergarbeiter S. 53).
Im Zuge der Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches war der Gebrauch der polnischen Sprache in den Schulen (1873), auf Schachtanlagen (1899) und bei öffentlichen Versammlungen (1908) verboten worden. Staatliche Organe versuchten, alle nationalpolnischen Bestrebungen etwa durch polizeiliche Überwachungsmaßnahmen zu unterdrücken. Beispielsweise wurde 1909 in Bochum eine zentrale Stelle für die Überwachung der Polenbewegung eingerichtet. Ihr Zweck war die Eindämmung des polnischen Nationalismus.
Ein Beispiel: Im Januar 1906 hielt der polnische Gesangsverein Halka in Castrop eine Kaisergeburtstagsfeier ab und war dafür sogar von der obligatorischen Vergnügungssteuer befreit worden. Der zur Kontrolle abkommandierte Polizist berichtete, die Anwesenden hätten zu Beginn der Feier ein dreifaches Hoch auf Seine Heiligkeit den Papst ausgebracht. Erst nachdem sie die Anwesenheit des Polizisten bemerkten, hätten sie sehr verhalten ein Hoch auf den Kaiser angestimmt. Schließlich sei noch ein deutschfeindliches Lied vorgetragen worden. Das nahm die Genehmigungsbehörde zum Anlass, nachträglich eine Vergnügungssteuer zu erheben. Es gab noch andere staatliche Restriktionen. Schulkindern wurde per Rundschreiben der Königlichen Regierung an alle Schulen verboten, polnischen Turnvereinen beizutreten, und in Wesel wurde eine Versammlung aufgelöst, weil der Redner sich weigerte, die deutsche Sprache zu benutzen. Schulämter stellten das außerschulische Lernen polnischer Lieder unter Strafe.
1893 gab es im Ruhrgebiet schon mehr als 100 polnisch-katholische Vereine. Beim Eucharistischen Weltkongress in Köln 1909 waren über 150 katholische Polenvereine vertreten. Sie wurden von der Obrigkeit argwöhnisch beobachtet, weil man befürchtete, dass in den Vereinen nationalpolitische Ideen verfolgt würden. Es waren gerade der staatliche Druck und die Spannungen zwischen der deutschen und polnischen Bevölkerung, die zur Gründung nicht nur religiöser polnischer Vereine führten. Den Zusammenschlüssen versuchte der Staat durch das Reichsvereinsgesetz von 1908 einen Riegel vorzuschieben. Es schrieb in Versammlungen und in Schulen die Benutzung der deutschen Sprache vor und untersagte den Polen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen.
Die meisten der nach Borbeck zugewanderten Polen lebten in Dellwig, Schönebeck und Frintrop. Dort schlossen sie sich zu weltlichen und religiösen Vereinen zusammen und gründeten eine eigene Gewerkschaft. Es gab polnische Volksmissionen, gemeinsame Wallfahrten der Polenvereine etwa nach Neviges, die von der Obrigkeit argwöhnisch beobachtet wurden, und auch polnische Exerzitien im Borbecker Exerzitienhaus. An polnischen Vereinen gab es in Borbeck u.a. den St. Josefs-Verein mit Schwerpunkt in Dellwig (1891), den St. Barbara-Verein in Dellwig (1897), den St. Antonius-Verein in Schönebeck (1902) und den St. Adalbert-Verein in Borbeck (1909).
Darüber hinaus gab es vorübergehend drei Turnvereine in Dellwig, Frintrop und Schönebeck, einen Gesangverein „Einigkeit“, einen Lotterieverein und einen Verein der polnisch-sozialistischen Partei für Borbeck und Umgebung. Vom Polenverein St. Adalbert, der 1912 bei der Einführung von Pfarrer Hammels in St. Dionysius im Festzug mitmarschierte, ist die Satzung erhalten geblieben. Zweck des Vereins war die „moralische und materielle Hebung der Mitglieder im Einklang mit der katholischen Kirche und auf der Grundlage ihrer Lehren.“ Die ersten beiden Paragraphen der Satzung des Barbara-Vereins in Dellwig lauteten:
„§1: Der katholische St. Barbara-Polen Verein hat den Zweck, unter den hiesigen Polen die Bildung, den Geist der Ordnung und guten Sitten zu fördern und dieselben vor den Gefahren der Socialdemokratie zu schützen. Politische Angelegenheiten sind ausgeschlossen.
2: Diesen Zweck will der Verein durch entsprechende Vorträge, Vorlesungen und Deklamationen in den Versammlungen, sowie durch Pflege des Gesanges in polnischer Sprache erreichen“. (Koerner, Polnische Bergarbeiter, S. 70).
Im Archiv des Kultur-Historischen Vereins Borbeck befindet sich die Fahne eines Österreich-Ungarischen Knappenvereins Borbeck von 1906 mit der Aufschrift „Auch in dem tiefsten Schacht Gottes Auge wacht. Glück Auf!“ (Beckmann, Kap. 4.4. Polenvereine). In Dellwig (1910) und Bergeborbeck (1911) wurden Rosenkranzbruderschaften gegründet. Dazu kamen 1914 besondere Polinnenvereine in Dellwig, Borbeck, Schönebeck und Frintrop. Zweck der Vereine war die „Pflege der Sprache und Volkssitten.“ Erkennbar waren alle Vereine aus Sorge um Sanktionen und Verbote um politische Enthaltsamkeit bemüht.
Das sah die Nationaldemokratische Partei, kurz: Polenpartei, ganz anders. Sie war von 1903 bis 1918 im Deutschen Reichstag, in den Provinziallandtagen und in den Kommunen vertreten. Die Partei setzte sich vorrangig für die Belange der Bergbau- und Industriearbeiter und deren Familien ein. Bei der Reichstagswahl 1907 erhielt der Polenpartei 4,0 % der Stimmen und 20 Mandate im Reichstag. 1912 erreichte sie einen Stimmenanteil von 3,6 %. In einigen Städten des Ruhrgebiets gehörte sie zu den stärksten Parteien. Die Zeitung „Wiarus Polski“ (deutsch: Kämpfer), die ab 1891 in Bochum in polnischer Sprache erschien, war das Sprachrohr der katholischen und nationalpolitischen Bewegung im Ruhrgebiet. Das stellte sie mit ihren Publikationen unter Beweis, beispielsweise mit der Veröffentlichung der „Zehn Gebote für Polen“ am 12. Juni 1913, deren erste Gebot lautete:
„Du sollst kein anderes Vaterland haben neben mir. Du sollst kein fremdes Land mehr lieben als mich“.
Auch in Borbeck war die Polenpartei präsent. Andreas Koerner hat die Wahlergebnisse der Polenpartei in Borbeck vor dem Ersten Weltkrieg zusammengestellt. (Koerner, Polnische Bergarbeiter, S. 58). Es gab bei den Wahlen von 1903 und 1905 16 Wahlbezirke und bei der Wahl von 1912 21 Wahlbezirke. Die Wahllokale 1903 und 1905: Bahrenberg, Kirchplatz (heute: Dionysiuskirchplatz), Kiefernagel: Essener Straße (heute: Frintroper Straße), Ww. Pahl: Hochstraße (heute: Bocholder Straße), Spielmann: Wilhelmstraße (heute: Borbecker Straße), Stobberg: Lindenstraße (heute: Haus-Berge-Straße), Hesper: Lindenstraße, Böhmer: Phönixstraße (heute: Hafenstraße), Hesse: Prosperstraße, Bast: Bruchstraße (heute: Im Hesselbruch), Schöller: Niederstraße (heute: Weidkamp), Keienburg: Donnerstraße, Sandgathe: Donnerstraße, Wienert: Turmstraße (heute: Höhenweg), Voßkühler: Oberhauser Straße (heute: Frintroper), Rotthäuser: Schloßstraße, in der Weide: Aktienstraße. Bei der Wahl von 1903 erzielte die Polenpartei im Wahllokal Hesse im Einzugsbereich der Zeche Prosper I mit fast 35 % die meisten Stimmen.
Insgesamt lag die Polenpartei in Borbeck deutlich unter 4 %, in Essen Stadt und Land waren es knapp 2 %. Bei der Wahl von 1905 gab es bei Hesse mit knapp 20 % den zweithöchsten Stimmenanteil nach dem Wahllokal bei Bast in der Bruchstraße mit 24 % im Wahlbezirk um die Zeche Neucöln. Die Wahlergebnisse der Polenpartei in Borbeck vor dem Ersten Weltkrieg belegen, dass sie im Einzugsgebiet von Zechenkolonien wie Ebel oder Vondern, besonders gut abschnitt. Bei der Reichstagwahl von 1912 im Wahllokal Kalveram in der Prosperstraße erreichte sie über 35 %, bei Hoffstadt in der Grünstraße (heute: Kraienbruch) nahe der Zeche Levin knapp 25 % der Stimmen. Insgesamt erzielte die Polenpartei in Borbeck 1912 knapp acht Prozent der Stimmen, in Essen Stadt und Land waren es deutlich weniger als vier Prozent.
Die katholischen Zuwanderer steckten mit ihren seelsorgerischen Bedürfnissen und dem partiellen Wunsch nach Assimilation im Widerstreit zwischen den Interessen des Staates und der Kirche. Tatsächlich hat die Polenseelsorge immer wieder zu Kontroversen geführt. Das zeigt der Streit um den Grabstein für den 1900 verstorbenen Polenseelsorger Vikar Peter Papst auf dem Friedhof an der Hülsmannstraße in Borbeck. Die Zeitung „Wiarus Polski“ setzte sich – stellvertretend für radikale polnischnationale Positionen - vehement für einen Grabstein mit polnischer Aufschrift ein:
„Landsleute! Wollen wir also unseren verstorbenen Seelsorger in Wirklichkeit ehren, dann können wir uns nur mit einer polnischen Aufschrift einverstanden erklären. ... Die Dankbarkeit des polnischen Volkes kann nur in polnischer Sprache dem Vormunde gegenüber zum Ausdruck gebracht werden.“ (Koerner, Polnische Bergarbeiter, S. 62).
Auf Veranlassung der preußischen Regierung wurde kurz vor der Jahrhundertwende das Seelsorgekonzept geändert, weil man befürchtete, dass die aus dem Osten stammenden polnischen Seelsorger die nationalpolitischen Interessen zu stark förderten. Daher wurden fürs erste aus oberschlesische polnisch sprechende und national zuverlässige Franziskaner in der Polenseelsorge im Ruhrgebet eingesetzt.
Ärger bereitete der Obrigkeit der katholische Polenverein St. Barbara in Dellwig mit seinem Vorsitzenden Paul Scheuer, der gegen einen Polenseelsorger agitierte hatte. Im Bericht des Landrats des Kreises Essen vom 22.12.1897 an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf ist die Rede davon, dass es Scheuer nicht darum gehe, „Frömmigkeit, Anstand und Sittlichkeit unter den Polen zu fördern“, ihm gehe es vordringlich darum, nationalpolnisches Gedankengut in den Verein hineinzubringen. Der Landrat versichert, den Vorsitzenden und den ganzen Verein scharf beobachten und gegebenenfalls zeitnah einschreiten zu wollen. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde das Konzept der Polenseelsorge erneut geändert. Zum Einsatz kamen nun deutsche Geistliche mit einer Zusatzausbildung in der polnischen Sprache und einem Aufenthalt in einem überwiegend polnisch-sprachlichen Gebiet.
In Dellwig wurde Matthias Lambertz (*1872) zum Polenseelsorger bestimmt. Er war nach der Priesterweihe für ein Jahr zum Studium der polnischen Sprache freigestellt worden. Der Polizei-Kommissar von Essen erstattete dem Regierungspräsidenten in Düsseldorf Bericht über den damaligen Vikar. Darin zitiert er Äußerungen von Lambertz, die seine Eignung unterstreichen sollten:
„Die Germanisierung der jetzt hier ansässigen Polen schreitet zwar langsam, aber sicher vorwärts. ... Ich mache die Wahrnehmung, dass es den polnischen Kindern eine ganz besondere Freude macht, mit mir deutsch zu sprechen. Sie können auch nur deutsch beichten und das ist eine Gewähr dafür, dass sie in Zukunft auch deutsch reden, fühlen und denken werden.“ (Koerner, Polnische Bergarbeiter, S. 63).
Gab es zunächst nur alle 14 Tage einen polnischen Nachmittagsgottesdienst. Ab 1907 fand in St. Michael, wo ein Drittel der Pfarrei Polen waren, jeden Sonntag um 9 Uhr eine Messfeier mit polnischer Predigt und polnischem Gesang statt. Die Beschwerde des Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz an den Erzbischof von Köln, in Dellwig fänden zu viele Gottesdienste für die polnische Bevölkerung statt, ignorierte Matthias Lambertz, seit 1902 Rektor der Gemeinde St. Michael in Dellwig und später ihr Pfarrer. Die staatlichen Behörden sahen in der Polenseelsorge ein probates Mittel im Prozess der Germanisierung der polnischen Bevölkerung. Von Pfarrer Lambertz wurde erwartet, dass er den nationalpolnischen Bestrebungen in seinem Wirkungsfeld energisch entgegenwirkte. Wallfahrten z.B. nach Neviges konnten nur unter strengen Auflagen stattfinden. Es durften keine Uniformen und Abzeichen getragen werden, die als Zeichen einer nationalen Demonstration angesehen werden konnten. Polnische Volksmissionen und ihre Missionare wurden unauffällig überwacht.
Die Nachfrage nach der Polenseelsorge ließ mehr und mehr nach. Pfarrer Lambertz hielt 1936 in seinem Bericht an das Erzbistum Köln fest, dass die „vollständig germanisierte Jugend“ für polnische Seelsorge nicht in Frage kommt und dass die Teilnahme am Polengottesdienst stark nachgelassen hat.
„Bis Ende September des vorigen Jahres [1938] wurde in der Pfarrkirche zu Dellwig jeden Sonn- und Feiertag Hl. Messe mit polnischem Gesang und polnischer Predigt gefeiert. Die Besucherzahl betrug rund 300, darunter die Hälfte Deutsche, die kein Polnisch verstanden. Nach Abtrennung des Rektorates St. Matthias, zu dem viele Polen gehören, wurde die Zahl der polnischen Kirchenbesucher bedeutend kleiner, und bei einer Ende September an einem Sonntag vorgenommenen Nachfrage von der Kanzel ergab sich. Dass nur noch 1/5 der der anwesenden Gläubigen, etwa 60, polnische Predigt mit polnischem Gesang wünschten. Daraufhin wurde dieser Gottesdienst in Dellwig nicht mehr gehalten und an dessen Stelle eine Kindermesse eingeführt.“ [Zitiert nach: Koerner, Polnische Bergarbeiter, S. 66].
Die monatlich abgehaltene polnische Nachmittagsandacht war zuletzt mit 2-3 Männern und etwa 20 Frauen so schlecht besucht, dass sie schließlich aufgegeben wurde. Das war der Anfang vom Ende der Polenseelsorge in Borbeck. War das zugleich auch ein Zeichen für erfolgreiche Assimilation oder Integration?
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, bekannt für seine flotten Sprüche, ließ sich Ende der 1970er-Jahre zu dem Satz hinreißen: „Wir haben die Ruhrpolen verdaut, also werden wir auch die Gastarbeiter verdauen.“ Angesichts der vorliegenden Zahlen kommt man in Abwandlung des Zitats eher zu dem Fazit, dass der „Pott“ die Polen nicht verdaut, sondern „ausgespuckt“ hat. Nicht zuletzt wegen des ständigen Assimilationsdrucks verließen nach der Gründung der Republik Polen 1918 viele Zuwanderer das Ruhrgebiet und kehrten in die alte Heimat zurück und suchte in einem anderen europäischen Land ein neues Zuhause. Im Ruhrgebiet blieb nur etwa ein Drittel der ursprünglich ca. 450.000 Migranten mit polnischen und masurischen Wurzeln zurück.
Daran gemessen ist die Geschichte der polnischen Einwanderung alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Integration setzt eine Gesellschaft voraus, in der alle die Werte der Verfassung anerkennen und sich zugleich in ihrer Verschiedenheit respektieren. Andersartigkeit wird so als Bereicherung und nicht als Belastung empfunden. Das war im Beobachtungszeitrum bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs bei den Zuwanderern aus Polen nicht der Fall. Sie bewegten sich zwischen staatlicher Repression und erzwungener Selbstorganisation in ihren Herkunftsmilieus und in einem dichten subkulturellen Netzwerk mit nationalpolitischen Tendenzen. In den aktuellen Migrations- und Integrationsdebatten spielen Polen keine Rolle. Sie gelten als gut integriert. Laut Bundeszentrale für politische Bildung haben nach einer Zählung von 2023 etwa 29 % der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Dabei stellen die Polen hinter den Türken (11,7 %) mit 8,8 % das zweitstärkste Kontingent.
Franz Josef Gründges
Quellen:
Andreas Koerner: Polnische Bergarbeiter in Borbeck 1880-1945. In: Borbecker Beiträge 2/2007, S, 51-71 und 3/2007, S. 91-99. – Franz-Josef Brüggemeier: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1919. München 1983. – Andreas Koerner: Zwischen Schloss und Schloten. Die Geschichte Borbecks. Bottrop 1999; Kap. 2.14.4: Polnische Zuwanderer (S. 118-120). – Beckmann, Christof: Katholisches Vereinswesen im Ruhrgebiet. Das Beispiel Essen-Borbeck 1900-1933, Münster 1990 (Dissertation). – Polnische Spuren in Deutschland. Ein Leselexikon, Dieter Bingen u.a. (Hrsg.), 2018 (Online-Version). – Skrabania, David: Die Ruhrpolen. Landeszentrale für politische Bildung, Online, 93 Seiten. – Haida, Sylvia: Die Ruhrpolen – Nationale und konfessionelle Identität im Bewusstsein und im Alltag 1871-1918, Bonn 2012 (Dissertation), Online-Ausgabe in bondoc, https://nbn-resolving.org/nbn:de:hbz:5-30734.
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