Keinen Bock auf Glockenläuten

Ein Kirchendiener beschwerte sich

1 02.04.2020

BORBECK. Was sich alles im Sperrmüll findet! Die meisten werden sich freuen, wenn er sich nicht zu lange an der Straße türmt - vor allem in diesen Zeiten, wo viele offenbar einfach richtig Zeit zum Aufräumen haben. Manchmal wartet aber tatsächlich auch ein seltsames Schätzchen im Abfall – so wie 1997. Damals berichteten die „Borbecker Beiträge“ des Kultur-Historischen Vereins Borbeck e.V. unter der Überschrift „Ein Sperrmüll-Brief von 1800“ über einen Vorgang, der heute nicht mehr restlos aufgeklärt werden kann.

„Sperrmüllbrief“ an die Stiftsverwaltung

Im Wust an der Straße in Borbeck-Mitte fand sich die Kopie eines schwungvoll geschriebenen alten Briefes - ohne Datum und ohne namentlich zeichnenden Absender. „Wo sich das Original befindet, weiß ich nicht“, schrieb Andreas Koerner, der sich der Sache seinerzeit annahm. Gerichtet war er an den „wohlgeborenen hochgelehrten“ Offizial – gemeint ist der geistliche Richter im Fürstlichen Stift Essen, der in Religionsfragen im Namen der Äbtissin zu entscheiden hatte. Sie wird in dem Anschreiben als „Königliche Hoheit“ bezeichnet. Da aber die letzte der Fürstäbtissinnen, Maria Cunegunda von Sachsen (1740-1826) als Prinzessin von Polen als einzige aus einem regierenden Königshaus stammte, wird der Brief demnach vermutlich in den Jahren ihrer Regierung – wohl vor 1800 - geschrieben worden sein. Als Adressaten kommen daher der Offizial Schmitz oder sein Nachfolger Aloys Brockhoff in Frage, so Koerner, der den Brief mit Hilfe von Peter Ziegler aus Altenessen entzifferte.

Glocken gegen das Spielen und Zechen

Wie aus dem Schreiben hervorgeht, ist der Verfasser wohl der „Kirchendiener“ gewesen. Er hatte schlicht keine Lust mehr, die Glocken zu läuten, erklärte er, und bat beim Offizial um Unterstützung. Mit dem Glockensignal nämlich sollte das „Spielen und Zechen“ in den Wirthäusern enden – im Winter um 20 Uhr und im Sommer um 21 Uhr. Das ging offensichtlich auf eine Anordnung von Fürstin Maria Cunegunda zurück, die seit 1777 als Nachfolgerin von Äbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach (1696–1776) ihr Amt antrat.

Hier die aktuellen Recherchen: Maria Cunegunda führte 1781 eine Justizreform ein, brachte 1794 die erste Verfassung des Stifts auf den Weg und traf zahlreiche Verfügungen, die direkt in das tägliche Leben in Stadt und Stift eingriffen. So reduzierte sie u.a. drastisch die vielen kirchlichen Feiertage um 185 auf 18, schränkte die Zahl von Hochzeits- und Trauergästen ein und erließ eine Verordnung gegen kostspielige Trauerkleidung. Für die Finanzierung des reformierten Schulwesens verwendete sie die Einnahmen aus der Erlaubnis zum Kaffeetrinken, die man für einen Taler pro Jahr erhalten konnte. Dazu kam ebenso eine Abgabe für Kaffeekränzchen, die sogenannten „Festchen“, und eine Strafe von 6 Goldgulden für nachgewiesenen unversteuerten Kaffeegenuss.

Keine Lust aufs Glockenläuten

Die das Glockenläuten betreffende Verordnung zur Einschränkung des Kneipenlebens war offensichtlich zuerst an den Pastor in Borbeck gegangen – wahrscheinlich handelt es sich um den kaiserlichen Kaplan Johann Simon Masberg aus Andernach, der 1793 bis 1807 Pastor an St. Dionysius war. Er gab die Anordnung wiederum mündlich an den inzwischen verstorbenen Vater des Kirchendieners weiter, der sich seitdem regelmäßig ans Glockenseil begeben hatte – ob es Sonn- oder Feiertag war. Der Sohn setzte es wie der Vater zunächst fort, sah es aber dann nicht mehr ein – wohl mit Rückendeckung seines Pfarrers, der feststellte, dass die Verordnung eh nicht besonders befolgt worden zu sein schien. „Nach weiser Überlegung“, schreibt der Kirchendiener, er sehe sich nur der in der Pflicht zu erfüllen, „was der Kirche und dem Gottesdienste angeht“, und „nicht den mindesten Grund“ darin, „der Polizei zu dienen“. Ein frommer Wunsch – ob er nicht sogar selbst auch gerne Teil des Kneipentreibens gewesen ist, ist nicht überliefert.

Historisch gesichert aber ist: Mit der Säkularisation und der preußischen Besetzung am 3. August 1802 verlor Maria Kunigunde ihre politisch-weltlichen Befugnisse. Das Königreich Preußen übernahm die Stadt und das Stift. Die „Königliche Hoheit“ blieb lediglich im Besitz ihrer geistlichen Hoheitsrechte und bezog bis zu ihrem Lebensende die Überschüsse aus der Abtei. Maria Kunigunde starb am 8. April 1826 – vor 194 Jahren - in Dresden und wurde katholischen Hofkirche beigesetzt, die derzeit renoviert wird.

Geläutet wird an der St. Dionysius-Kirche in Borbeck übrigens schon lange nicht mehr, damit die Kneipen schließen. Die sind von morgens bis abends zu - das hat in diesen Tagen aber ganz andere Gründe ...

Hier der Brief im Wortlaut:

„Wohlgeborrner Hochgelehrter
Hochwürdiger Herr Oficial!

Euer Hochwürden werden mir erlauben meine Klage unterthänig vorzustellen, und dero Schuz zu imploriren:

Vor fünf Jahr haben Ihro Königliche Hohheit eine Verordnung promulgieren lassen, welcher zufolge das Spielen und Zechen in den Wirts-Häusern zur Winterszeit um 8 und zur Sommerszeit um 9 Uhr des Abends aufhören soll.

Einige Zeit nach Bekanntmachung derselben hat der Herr Pastor meinem sel. Vater mündlich bedeutet, daß er zu dem eben angeführten Entzwecke im Winter um 8, und im Sommer um 9 Uhr An Sonn und Feiertagen Abends ein Glockenzeichen geben sollte.

Mein verstorbener Vater fing also das Läuten an ohne nachzudenken, ob er Pflicht dazu hätte, oder nicht, und ich habe es nach seinem Tode fortgesezt.

Inmittels unterliese ich also das Läuten in dieser jüngeren Zeit mit Verweisen des H. Pastor; weil es die Belehrung gegeben, daß auch derhalb der gnädigsten Verordnung eben wenig nachgelebet worden, und andern Seits ich nach weiser Überlegung auch nicht den mindesten Grund finde, warum ich hiezu soll gehalten sein, in dem ich blos, als Kirchendiener, nur die Pflicht habe, dasjenige zu erfüllen, was der Kirche und dem Gottes Dienste angeht, und nicht der Polizei zu dienen. ...“

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Kommentare

Kommentar von ludwig |

Herrlich, einfach nur herrlich. Da war doch früher richtig was los. Vielen Dank für diese "Ausgrabungen".

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