Karwoche: Die Zeit, die Geschichte und ein altes Messbuch

Ein Fundstück von 1711 aus der Pfarrei St. Dionysius Borbeck

0 12.04.2019

BORBECK. Die Urpfarre von Borbeck geht bis auf das 10. Jahrhundert zurück und mag sogar noch älter sein. Ein alter romanischer Kirchbau, der auf dem Kirchberg stand, wurde im 13. Jahrhundert erweitert. Jedoch war er in der Zeit der großen Bevölkerungszuwanderung während der Industrialisierung bald zu klein. 1860 ersetzte man das Gebäude durch eine neue Dionysius-Kirche – ihr Entwurf, den der spätere Kölner Dombaumeister Vinzenz Statz vorlegte, war einer der ersten im neugotischen Stil überhaupt. Die Kirche war nach der Fertigstellung damals die größte im weiten Umkreis und wurde bald zur Mutterkirche von 21 Tochtergründungen in Essen wie Oberhausen. Doch besitzt sie heute nicht mehr vieles von dem, was sich in all den Jahrhunderten für den liturgischen Dienst angesammelt hatte. Zahlreiche Zeugnisse dieser Zeiten wurden ein Raub der Kriege, gerieten in fremde Hände. Manches aber wurde sicher auch schlicht ausgemustert, weil sich die Zeiten änderten, weil Altes durch Neues ersetzt wurde.

Ein Fund zur Karwoche

Vor der beginnenden Karwoche machte uns Heinz-Werner Kreul, der Archivverwalter der Borbecker Pfarre, auf ein altes Messbuch von St. Dionysius aufmerksam. Es wirft einen Blick in eine Zeit, die noch weiter entfernt scheint als die knapp skizzierte jüngere Kirchengeschichte am Ort. Und doch erinnert das Buch daran, wie jede und jeder selbst auch heute in der Zeit steht. Einer Lebenszeit, einer Zeit, die man mit einigem Interesse von der Generation der Großelternzeit bis zu den Enkeln überblicken mag und die doch nur ein Ausschnitt aus dem großen Fluss der Zeit bleibt. Hier haben Relikte aus der Vergangenheit die Angewohnheit, den Blick zu weiten – und dies tut auch der mehr als drei Jahrhunderte alte Band, der inzwischen im Bistumsarchiv in Essen-Kray aufbewahrt wird.

Druckwerk von 1711

Das Druckwerk aus dem Besitz der Pfarrei St. Dionysius stammt aus dem Jahr 1711, in dem Phillip Hesselman als Pastor tätig war (1697-1715). Er errichtete zu seiner Zeit in der Borbecker Kirche einen neuen Hochaltar, von dem keine Spuren mehr erhalten sind. Sicher haben damals auch der gebürtige Borbecker Pastor Wilhelm Heinrich Graffweg (1715-1728) und Pastor Johann Theodor Nagelschmid (1728-1751) daraus die Hl. Messe gefeiert, ebenso werden es die Vikare Johann Lang, Vikar Johann Portmann oder Jakobus Udalricus Graffweg (1715-1728) benutzt haben, die an eigenen Nebenaltären in der alten Dionysius-Kirche die Messe lasen.

Sie nutzten damit einen Text, der bereits damals mehr als 150 Jahre lang für die ganze Katholische Kirche weltweit bei der Feier der Messe vorgeschrieben war: Das lateinisch verfasste „Missale Romanum“ geht auf die Beschlüsse des Konzils von Trient zurück (1545-1563) und wurde von Pius V. (Papst von 1566-1572, 1712 heiliggesprochen) zum verbindlichen Messbuch für die katholische Kirche gemacht. Papst Clemens VIII. (1592-1605) ließ den Text 1604 überarbeiten und 1643 approbierte Papst Urban VIII. (1568-1644). Auch dies ist der ersten Seite des Drucks aus dem Archiv der St. Dionysius-Kirche zu entnehmen. Der festgelegte Messritus behielt bis zu den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils 1960/65 weitgehend unverändert seine Form.

Blick in die Geschichte des Buchdrucks

Auch interessant ist der Hinweis auf den Ort, an dem das Buch hergestellt wurde: Gedruckt wurde der Band im Jahr 1711 durch die in Antwerpen ansässige Buchdruckerei „Officina Plantiniana Balthasaris Moreti“, ein Geschäft, das der Franzose Christoffel Plantin um 1549 dort gegründet hatte. Er stammte aus Tours, hatte in Paris gelernt und machte die Druckerei zu einer der bedeutendsten von Flandern, einer Hochburg des europäischen Druckereigewerbes. Mehrere Buchdrucker-Familien setzten die Tradition der Firma über jeweils viele Generationen fort. Sie druckte die römischen Missale seit 1645, aber auch andere theologische Literatur, Reisebeschreibungen und Stadtführer aus vielen Ländern des Kontinents. Wie das Borbecker Missale angibt, war 1711 die Familie Moret (Moretus) Eigentümer des Unternehmens, dessen Leiter vom spanischen König kurz zuvor in den Adelsstand erhoben worden war. Damals führte Balthasar Moretus IV. das Geschäft. Er hatte es 1696 übernommen und starb 1730. Bis heute ist das Buch- und Verlagsgeschäft nicht unterbrochen - auch nach mehreren Eigentümerwechseln: 1812 übernahm die Familie Brill die Leitung der Firma, die derzeit rund 100 Fachzeitschriften herausgibt.

Unfriedliche Zeiten auch damals

Über 300 Jahre sind nun seit dem Druck des Buchs aus St. Dionysius vergangen. Die sinnenfrohe Zeit des Barock stand in voller Blüte, doch friedlich waren die Zeiten schon damals nicht: Zur Zeit seiner Drucklegung kämpften Dänen und Schweden in Pommern im Großen Nordischen Krieg, in der Ukraine tobte der Russisch-Osmanische Krieg, der Habsburger-Kaiser Joseph I. starb in Wien und im Oktober folgte ihm Karl VI. als Deutscher Kaiser nach seiner Wahl in Frankfurt am Main. Französische Piraten plündern in Brasilien, in Ostpreußen hinterließ die Große Pest eine Viertelmillion Tote, die Briten marschierten in Nordamerika auf Quebec, die Brandenburger gaben ihre kolonialen Bemühungen in Afrika auf und Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo riss in London das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.

Im selben Jahr wurde in Düsseldorf ein Denkmal gesetzt, das viele kennen und das bis heute zu sehen ist: Das Reiterstandbild für Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg, Kurfürst von der Pfalz und Herzog von Jülich-Berg, den die Düsseldorfer schon damals nur Jan Wellem nannten. Im reichsunmittelbaren Stift Essen, zu dem Borbeck gehörte, regierte damals seit 20 Jahren die 1654 geborene Bernhardine Sophia von Ostfriesland und Rietberg als Fürstäbtissin. Die selbstbewusste Regentin starb am 14. August 1726 und ihr Grab befindet sich in Schloss Styrum in Mülheim an der Ruhr, wohin sie sich vor ihrem Tod zurückgezogen hatte. Erst unter ihrer Nachfolgerin Christina von Pfalz-Sulzbach (1727-1776) erhielten ab 1745 das Borbecker Schloss und der 42 Hektar große Schlossgarten im englischen Gartenstil ihre heutige Gestalt.

Tempus fugit ...

Wer den nur wenigen Hinweisen auf dem alten Messbuch folgt, dem kann sich ein Blick in ein ganzes Panorama einer Zeit erschließen – auch wenn sich von ihr in Borbeck und unserem Lebensumfeld bis heute nur wenig mehr erhalten hat. „Tempus fugit. / Die Zeit fliegt“, meinten schon die alten Römer. Und dass die Vergänglichkeit zum Leben dazugehört, macht die Karwoche deutlich. Mehr aber als das: Das Leben ist wieder neu erwacht. Der Frühling lockt. Und Ostern steht vor der Türe.

C. Beckmann

Quelle und Fotos: Dionysius-Archiv / Kreul

Eine besondere Entwicklung in der Pfarrei St. Dionysius war die Todesangstbruderschaft, deren Gründungsurkunde (Bild oben) von 1770/71 stammt. Sie geht zurück auf die 1648 durch den Jesuiten­gener­al P. Vinzenz Caraffa in Rom gegrün­dete „Bruderschaft vom guten Tode“, die die Mitglieder auf einen guten Tod vorbereiten sollte. Errichtet unter dem Titel der Anrufung des am Kreuz sterbenden Heilandes, der schmerz­haf­ten Mutter und unter dem Schutz des hl.Joseph, erfreute sich die Gesamt­bruder­schaft der besonderen Gunst vieler Päpste: Benedikt XIII., erhob sie 1729 zur Erzbruderschaft und unterstellte sie dem Jesuitenor­den. Pius VII. und Leo XII. verliehen ihr reiche Ablässe, darunter einen vollkom­menen Ablass am Tage der Aufnahme in die Bruder­schaft, in der Todesstunde und an den hohen Festen. Die durch die seit 1666 in Essen tätigen Jesui­ten im Kirchspiel Borbeck eingeführte Todesangst­bruder­schaft wurde mit Genehmigung von Äbtissin Franziska Christina von Pfalz-Sulzbach errichtet, die von 1726-1776 an der Spitze des Stiftes Essen stand und die Bruderschaft mit einem Kapital von 250 Reichstalern ausstattete. Zahlreiche Familien der Gemeinde Borbeck gehörten der Bruderschaft damals an. 1782 wurde der Stiftungsfonds von Mechthildis Schaumburg um 200 Reichstaler erhöht.

Mitgliedslisten der Borbecker Todesangstbruderschaft liegen in den Beständen des Pfarrarchivs nur für die Jahre 1770 bis ca.1875 komplett vor Ein Ablassbreve von Papst Pius VII. für die Borbecker Bruderschaft, das für den ersten Sonntag im März einen vollkommenen Ablass gewährte, befand sich noch 1911 im Pfarrarchiv. Als die „uralte“ Todesangstbruderschaft 1920, im Jahr ihres 150-jährigen Bestehens ihr Hauptfest feierte, waren alle Pfarrangehörigen aufgefordert, „nach dem Beispiel ihrer Vorfahren“ zu den Sakramenten zu gehen. Allerdings nahm die Bedeutung der Bruderschaft nach dem millionenfachen Töten im I. Weltkrieg stark ab. Nur noch sporadisch erscheint sie mit ihren Terminen in den Mitteilungen oder Vereinsnachrichten auf der Pfarrseite des Borbecker Kirchenblattes, das ab 1910 erschien. Stattdessen setzten sich andere Frömmigkeitsformen durch: Andachten der Herz-Mariä-Bruderschaft und der Herz-Jesu-Bruderschaft, aber auch die Christkönigs-Verehrung gewannen größeren Platz in der Liturgie des Jahreslaufs. Die dem Hl.Donatus, dem zweitem Patron der St.Dionysius-Pfarre gewidmeten Donatus-Andachten verschwanden in den 1920er Jahren ganz. Die galten drei- bis viermal pro Jahr der "Erflehung einer gedeihlichen Witterung" im Sommer und gingen bis auf die bäuerliche Vergangenheit des Kirchdorfs zurück.

Alte Messbücher haben ihren besonderen Reiz - hier ein weiteres Exemplar aus dem Dionysius-Archiv, das bei einer Ausstellung in der Alten Cuesterey vor einigen Jahren gezeigt wurde - ebenso wie die drei zusammengehörigen Messgewänder, die mit dem Stab und der Kopfbedeckung für den Kirchenschweizer aus der alten Kirche in einer Vitrine präsentiert wurden (Bild unten).

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