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0 31.12.2019
BORBECK. „Nr 1, 16. Jahrgang, Einzelpreis 25 Pfg.“ stand im Untertitel der Ausgabe zu Neujahr 1964. Die BORBECKER NACHRICHTEN (BN) firmierten noch als „Unabhängige Wochenzeitung für Heimat und Volkstum“. Und die Titelseite zeigte damals ein einziges Bildmotiv: Ein Borbecker Opa und zwei seiner Enkelkinder sind nach dem Spaziergang im Schloßpark auf dem Heimweg und durchschreiten das prachtvolle Schlosstor, das damals noch direkt an der Straße stand. Wie es sich damals gehört, ist der Großvater mit Mantel und Hut gekleidet, ein aufmerksamer Enkel mit Kappe geht an seiner rechten Hand, zu seiner Linken läuft eine kleine wehrige dreijährige Enkeltochter, ebenfalls warm eingepackt mit Bommelmütze und Handschuhen. Schnee liegt auf dem Boden und den Simsen der Torpfeiler, die Kruppsiedlung schaut verschneit durch die kahlen Birkenbäume.
Was den unvergessenen BN-Herausgeber Walter Wimmer damals zur Wahl dieses Bildes bewogen haben mag, liegt auf der Hand. Über die Schwelle eines neuen Jahres zu schreiten - das ließ sich mit dem gewählten Motiv sehr gut illustrieren. Alt und Jung gehen gemeinsam. Der Opa, der in seinem Leben schon oft zuvor durch den Bogen gegangen sein mag, daneben die junge Generation der Enkel. Die beiden Kleinen stehen selbst für eine neue Zukunft, denn Wirtschaftswunder und Aufschwung sind die Kennzeichen des Jahrzehnts - eine vielleicht unerwartete Entwicklung für den 1898 geborenen und damit noch aus dem vergangenen Jahrhundert stammenden Großvater. Vor der mit schmutzigem Schnee bedeckten Straße halten sie brav seine Hand und er scheint auf das zu lauschen, was ihm der Enkel mit fragendend erhobenem Kopf sagt. Und gemeinsam passieren sie das barocke Tor, das fast 300 Jahre zuvor an einer ganz anderen Stelle entstand.
Das bis heute größte öffentlich zugängliche schmiedeeiserne Kunstwerk auf Essener Boden befand sich ursprünglich auf Schloss Hugenpoet. Reichsfreiherr Friedrich Leopold von Fürstenberg ließ es am 21. Juni 1864 – fast genau 100 Jahre, bevor dieses Foto gemacht wurde – bei der Ummauerung des Schlossgeländes nach gründlicher Renovierung in den Hauptzugang zum Schloss einsetzen – zur Freude seiner Frau Anna Franziska, geborene Gräfin Wolf-Metternich zu Schloss Gymnich. Wiederum 100 Jahre später, 1964, sollte das schmiedeeiserne Schlosstor nach der Beseitigung der alten Ziegelmauereinfassung abgebaut und am Zugang zum Park in Verlängerung der beiden Brückenpfeiler zwischen Schloss und Wirtschaftsgebäude als prunkvolles Mittelstück eingesetzt werden. Die drei Wanderer mögen das bei der Aufnahme wahrscheinlich noch nicht gewusst haben – wie vieles, was in der Zukunft liegt. Immerhin lässt sich heute dazu sagen, dass das nach der Beschädigung und Restaurierung sicher verwahrte Tor nach dem Abschluss der Bauarbeiten am Wirtschaftsgebäude auch wieder am alten Platz angebracht werden wird.
Bemerkenswert ist neben dem Bildmotiv aber auch das Lied, dessen Text zur Jahreswende 1964 in der linken Spalte neben dem hochformatigen Foto abgedruckt wurde. Es ist das Kirchenlied „Der du die Zeit in Händen hast“. Erstmals erschienen war es in der Neujahrsausgabe der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ von 1938. Der Autor Jochen Klepper (1903-42) schrieb es im Oktober 1937 und gab ihm den Titel „Neujahrslied“. Wie damals üblich, musste es von der so genannten „Reichsschrifttumskammer“ genehmigt werden und hatte ein vernichtendes Urteil bekommen: „Dieses Gedicht ... ist eine lyrische Paraphrase über den 102. Psalm und vertritt eine Gesinnung, die absolut jüdisch genannt werden muss. ... Das heutige Deutschland darf bestimmt ein Neujahrslied in einem anderen, positiveren Ton erwarten, der es nicht nötig hat, auf die knechtische Einstellung der Psalmen zurückzugreifen“ – die rassistischen Bürokraten versahen ihren Nonsense mit dem Vermerk, dass er mit einer Jüdin verheiratet ist. Wie durch ein Wunder erhält Klepper trotzdem kurz vor Andruck die Freigabe – gerade noch rechtzeitig.
Die Bücherverbrennungen und die Einrichtung dieser Abteilung der „Reichskulturkammer“ 1933 hatten das tragische persönliche Schicksal von Jochen Klepper vorgezeichnet: Der im oberschlesischen Beuthen geborenen Pfarrerssohn und evangelische Theologe, der mit zu den bekanntesten Kirchenlieddichtern des 20. Jahrhunderts zählt, geriet damals schnell unter den Druck des nationalsozialischen Regimes. Der Autor beim Berliner Rundfunk wird mit der Gleichschaltung des Rundfunks in Berlin entlassen. Sein Vergehen: Seine Ehefrau Johanna und ihre beiden Töchter sind jüdischen Glaubens. Für zwei Jahre kommt er als Redakteur beim Ullstein-Verlag unter. Sein erfolgreicher Roman „Der Vater“ hatte 1937 ein Gegenbild zum Führerkult des Nationalsozialismus gezeichnet und bringt ihm nun ein Berufsverbot ein. Eine seiner Töchter kann noch kurz vor Kriegsausbruch über Schweden nach England fliehen, die Ausreise der jüngeren scheitert. So bleibt ihm 1940 nur noch die Flucht in die Wehrmacht. Nach einem knappen Jahr an der Ostfront wird er jedoch wegen seiner „nichtarischen Ehe“ als „wehrunwürdig“ entlassen. Die Verschärfung der Judenverfolgung, die drohenden Deportationen, die Angst vor einer Zwangsscheidung und die existenzielle Ungewissheit treiben ihn und seine Familie schließlich zum Äußersten: 1942 gehen sie gemeinsam in Berlin in den Tod. Bis heute zeichnen seine akribischen Beobachtungen, die er in seinen Tagebüchern überliefert, ein beklemmendes Bild des nationalsozialistischen Zwangssystems. Viele seiner Texte erschienen erst nach dem Krieg, seine vertonten Gedichte haben einen großen Niederschlag im Kanon der evangelischen, aber auch katholischen Gesangbücher gefunden.
Ungewöhnlich ist der Abdruck dieses Textes auf der Titelseite der BORBECKER NACHRICHTEN vor inzwischen 56 Jahren allemal. Doch auch ohne die tragische Lebensgeschichte des Autors zu erwähnen, greift die Text- und Motivwahl der Neujahrausgabeausgabe ein Lebensgefühl auf, das viele der Leserinnen und Leser zu jener Zeit noch nachhaltig prägte: Die unmittelbare Erfahrung des grausamen Krieges, der damals nicht einmal zwei Jahrzehnte vergangen ist, die Aussichtslosigkeit und die Verzweiflungen der Jahre unter der Diktatur – all das spiegelt sich in diesem Lied, mit dem die BORBECKER NACHRICHTEN über die Schwelle des Jahres 1964 gingen. Aber es spricht auch von dem, das die Zeiten überdauert, von der Hoffnung, wie es die sechste Strophe passend zum Bild deutlich macht: „… bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.“ Glückauf zum neuen Jahr 2020!
1) Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.
2) Da alles, was der Mensch beginnt,
vor seinen Augen noch zerrinnt,
sei du selbst der Vollender.
Die Jahre, die du uns geschenkt,
wenn deine Güte uns nicht lenkt,
veralten wie Gewänder.
3) Wer ist hier, der vor dir besteht?
Der Mensch, sein Tag, sein Werk vergeht:
nur du allein wirst bleiben.
Nur Gottes Jahr währt für und für,
drum kehre jeden Tag zu dir,
weil wir im Winde treiben.
4) Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist.
Du aber bleibest, der du bist,
in Jahren ohne Ende.
Wir fahren hin durch deinen Zorn,
und doch strömt deiner Gnade Born
in unsre leeren Hände.
5) Und diese Gaben, Herr, allein
laß Wert und Maß der Tage sein,
die wir in Schuld verbringen.
Nach ihnen sei die Zeit gezählt;
was wir versäumt, was wir verfehlt,
darf nicht mehr vor dich dringen.
6) Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.
Das Originalfoto vom Spaziergang ins Neue Jahr 1964 hat die damals fotografierte Familie nun mehr als ein halbes Jahrhundert aufbewahrt ...
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