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0 28.11.2020
BORBECK. Die Welt ist in Bewegung und unsere Gesellschaft verändert sich ständig. Manche Veränderungen finden eher im Verborgenen statt und fallen nur wenigen Menschen auf. Eine der erfreulichsten Veränderungen der letzten fünfzig Jahre stellt die Art und Weise dar, wie Menschen mit Behinderungen ein fast ganz normaler Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Dafür ist das Hilda-Heinemann-Haus in Borbeck-Mitte ein gutes Beispiel. Am 1. Dezember wird die Einrichtung vierzig Jahre alt.
Am Anfang dieser Geschichte stehen drei Namen: Heinrich Gehring, Gerhard Haase und Hilda Heinemann. Also ein Pfarrer, ein Diakon und die Ehefrau des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Was hatten sie miteinander zu tun? Heinrich Gehring, heute Superintendent a.D., kam 1967 als neuer Pfarrer in die Kirchengemeinde Borbeck-Vogelheim, wo er den Diakon Gerhard Haase kennenlernte. Diese Begegnung war folgenreich, denn Haase war fest entschlossen, an der seinerzeit noch ziemlich oft rückständigen Behandlung von Menschen mit Behinderungen etwas zu ändern.
Heinrich Gehring erinnert sich an die Anfänge
„Damals wurden Betroffene noch auf eine Art und Weise behandelt, die durch die Epoche des Nationalsozialismus geprägt war“, erinnert sich Heinrich Gehring heute. „Es gab zwar einige Werkstätten, in denen Behinderte arbeiten konnten, doch ansonsten lebten sie zu Hause, von den Öffentlichkeit abgeschirmt und ignoriert – auch wenn ihre Eltern sie mit unendlicher Liebe großzogen, ausbildeten und schützten.“ Öffentliche Schulen, Betreuung und Assistenz? Fehlanzeige. Es herrschte eher eine „Kultur der Verachtung und Verdrängung aus dem Alltag“, wie Gehring es nennt.
In der Borbecker Gemeinde aber grünte damals schon ein zartes Pflänzchen der Veränderung. Dort gab es einen sogenannten „Freizeitclub“ für Menschen mit Behinderungen. Aus dieser Arbeit heraus entstand dann 1970 der Entschluss, im Stadtteil ein neues Zuhause für Menschen mit Behinderungen zu schaffen: Ein Ort, an dem Menschen mit Behinderung auch noch in fortgeschrittenem Alter leben können, dann nämlich, wenn ihre Eltern selbst zu alt sind, um sie intensiv zu betreuen. Zusammen mit Diakon Haase setzte sich Heinrich Gehring, der mittlerweile auch Vorstandsmitglied der Essener „Lebenshilfe e.V.“ geworden war, für das Projekt ein. Die Gemeinde stellte eines ihrer Grundstücke zur Verfügung und gemeinsam mit der „Lebenshilfe“ nahm ihr Plan konkrete Formen an.
Bis zur Realisierung sollte es aber noch längere Zeit dauern: Zehn Jahre nahmen die Planung und der Bau des Hauses insgesamt in Anspruch. Gerade die „bürokratischen Hürden waren unvorstellbar hoch“, erinnert sich Heinrich Gehring. Und es war nicht nur die Bürokratie, die dem Projekt manches Mal den einen oder anderen Stein in den Weg legte. Auch die Frage der Finanzierung musste geklärt werden.
Und da kommt Hilda Heinemann ins Spiel. Die Ehefrau des früheren Bundespräsidenten hatte eine eigene Stiftung gegründet, die sich die Unterstützung behinderter Menschen zur Aufgabe gemacht hatte, und war auch selbst „zu einer wichtigen inneren Stütze im Kampf für die Rechte behinderter Menschen“ geworden. Heinrich Gehring und Gerhard Haase lernten sie in diesen Jahren persönlich kennen und es gelang ihnen, sie von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Am Ende sorgte Hilda Heinemann dafür, dass das gesamte Vermögen ihrer Stiftung in das Projekt floss; die Stiftung ging gewissermaßen in der neuen Wohnstätte auf. Damit war dann auch schnell klar, dass das Haus nach seiner Fertigstellung den Namen „Hilda-Heinemann-Haus“ tragen würde. Eine schöne Randnotiz ist übrigens, dass die Bewohner ihre neugegründete Band später augenzwinkernd „Die Hildis“ nannten.
Hilda Heinemann selbst hat die Eröffnung der neuen Wohnstätte nicht mehr miterlebt. An der Grundsteinlegung konnte sie kurz vor ihrem Tod im Mai 1979 noch teilnehmen. Als das Gebäude dann 1980 bezogen wurde, war sie zum Bedauern der Initiatoren und der ersten Bewohner schon verstorben. Das Projekt aber wurde ein Erfolg: Eine große Schar fröhlicher Menschen zog ein und nahm die Räumlichkeiten in Besitz. Später entstanden, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem damaligen Heimstättenwerk, noch weitere Wohneinheiten in Essen. Heute ist das Hilda-Heinemann-Haus eine Gesellschaft, an der der Verein „Lebenshilfe“, der Kirchenkreis Essen und die Gemeinde Borbeck-Vogelheim zu gleichen Teilen beteiligt sind. „Unser gemeinsames Projekt hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Hypothek des Nationalsozialismus zu überwinden“, ist Heinrich Gehring überzeugt.
Wer das Haus an der Wüstenhöferstraße 179 besucht, findet auch heute viele besondere Menschen vor, die hier miteinander leben und lernen, die typischen Aufgaben des Alltags zu bewältigen: Was gehört auf einen gedeckten Esstisch? Wie spült man Geschirr? Was muss ich beachten, wenn ich auf der Straße unterwegs bin? Und das ist nicht alles: einige Bewohner haben sich ineinander verliebt und geheiratet. Was uns heute fast als Selbstverständlichkeit erscheint, wäre in den Siebzigerjahren undenkbar gewesen. Jeder Bewohner, jede Bewohnerin bekommt, was er oder sie braucht: von der intensiven Betreuung bis zu einem fast eigenständigen Leben. Eine Einrichtung, die sich ganz auf die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Bewohner einstellt.
Die Bedeutung des Hauses für die Emanzipation von Menschen mit Behinderungen steht außer Frage. Leider kann das vierzigjährige Bestehen in diesem Jahr aufgrund der Corona-Pandemie nicht gefeiert werden. Aber nachdem schon die Gründung dieses Zuhauses zehn Jahre dauerte, schreckt die Verlegung der Jubiläumsfeier um vielleicht mehrere Monate hier niemanden.
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