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0 16.04.2020
BORBECK. Abstand halten – das gilt auch weiterhin. „Social distancing“ nennt man das neudeutsch, gemeint ist wohl eher, dass man in diesen Virus-Tagen auf körperlicher Distanz bleibt. Viel hat sich für uns dramatisch verändert und umso aktiver sind alle derzeit offensichtlich im Netz. Für sie haben wir heute ein Fundstück aus der frühen Preußenzeit: Denn Abstand zu halten, war in Borbeck früher im Vergleich zu heute eindeutig ein Kinderspiel.
Sage und schreibe 3.822 Einwohner tummelten sich danach vor genau 200 Jahren auf einer Fläche, die noch sehr viel größer war: Denn große Teile des heutigen Oberhausen gehörten noch zur damaligen Bürgermeisterei, ebenso die später ausgemeindete „Dreibauerschaft“ Altendorf, Holsterhausen und Frohnhausen. Das vermerkt die „Topographisch-Statistische Beschreibung der Königlich Preußischen Rheinprovinz“, die der Königlich Preußische Oberst-Lieutenant Friedrich v. Restroff im Jahr 1830 in Berlin herausgab. Die Preußen wollten eben genau wissen, was sich in ihren nach den Napoleonischen Kriegen besetzten und dann zugefallenen Regionen tat. Peinlich exakt erhoben sie darum eine Unmenge von Daten, die in den folgenden Jahren mit zahlreichen Publikationen die wachsende wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Region dokumentierten.
Das zeigt sich in den Angaben für die Bürgermeisterei Borbeck, die damals „1 Dorf, 13 Bauerschaften, 1 Weiler und 5 Landgüter(n)“ zählte – und nur eine Kirche. Bereits damals nahm die Bevölkerung kontinuierlich zu: Von 1817 (3.668) bis 1828 stieg sie auf 4.457 Einwohner – „darunter 2.238 männliche, 2.259 weibliche, 4.457 Katholische, 40 Evangelische“. Das preußische Datenwerk von 1830 vermerkt damals übrigens für die Bürgermeisterei Essen zwischen 1817-1828 ein Wachstum von 4.651 auf 5.325, für Werden von 4.777 auf 5.980.
Borbeck, das „Dorf mit einem Schlosse, auf welchem ehemals die Äbtissinnen von Essen zuweilen residirten“, zählte 602 Einwohner (heute in Borbeck-Mitte: 14.000), hatte ein Eisenwerk und drei Jahrmärkte. Zur Gemeinde zählten die „Bauerschaft Bedingradt, der Weiler Wittkamp, die Landgüter Bermen, Heckt, Herl und Repshorst“. Mit Einwohnerzahlen verzeichnet sind die Bauerschaften Altendorf (428), „Bochholt mit dem Schlosse Bergen“ (194), Dellwig (266), Frintrop (368), Frohnhausen (653), Gerschede (194), Holsterhausen (392), Lippern (179), „Lyrich“ (92), „Müllhoven" (424), Schönebeck (293) und Vogelheim mit 412 Einwohnern.
Wer heute auf solche Angaben guckt, vergleicht sie vielleicht mit der Zahl der Einwohner, die allein in seiner Straße wohnen. Doch wer damals lebte, wird sich bestimmt noch mehr gewundert haben, mit welch rasanter Geschwindigkeit sich seine Welt in jeder Beziehung nun total veränderte.
Denn natürlich ist auch das Jahr 1820 nur eine Momentaufnahme. Danach wurde alles anders und Wiesen, Äcker und Wälder verschwanden. Mit der Gründung der ersten Tiefzechen im späteren Ruhrgebiet, von Walzwerken, Zink- und Eisenhütten explodierte hier die Einwohnerzahl – überproportional im Vergleich zur ganzen Region. Sie verdoppelte sich innerhalb von knapp 20 Jahren und stieg – trotz großer Gebietsverluste - bis 1861 auf rund 17.000, bis 1871 sogar auf über 27.000.
Bild: Schlote im Feld. Die Zinkhütte in Borbeck auf einer kolorierten Lithographie aus Paris um 1860
Dann aber ging es richtig los. Selbst die noch vor der Gründung des Kaiserreichs zugereisten Neubürger werden sich die Augen gerieben haben. Trotz heftiger Wirtschaftskrisen und Streiks stampfte die Schwerindustrie voran und saugte in fast weiteren drei Jahrzehnten noch einmal doppelt so viele Einwohner „ins Dorf". Das im Übrigen schon lange keines mehr war: Zweimal versuchte die Bürgermeisterei darum, selbst Stadt zu werden – 1897 und 1906. Dafür waren nach der 1856 verkündeten Städteordnung für die Rhein-Provinz 10.000 Einwohner nötig. Doch obwohl inzwischen zur Jahrhundertwende hier schon 60.000 lebten, wurde für Borbeck daraus bekanntermaßen nichts. Bei der Eingemeindung zu Essen 1915 schließlich waren es fast 80.000 Einwohner – auf viel kleinerer Fläche und 20 Mal mehr als knapp 100 Jahre zuvor.
Heute leben im heutigen Essener Stadtbezirk IV auf 27,5 km² fast genau 90.000 Einwohner. Aber wie bereits gesagt: Auch unsere Welt hat sich nun in kürzester Zeit rasant verändert - und das aus ganz anderen und bekannten Gründen. Mag das Abstandhalten früher vergleichsweise eindeutig wohl ein Kinderspiel gewesen sein – wir kommen in Corona-Zeiten nun mal nicht drum herum. In der ganzen Stadt und überall. Bleibt gesund.
Wie es damals aussah: Man sieht, dass man (fast) nicht sieht. Hier die Preußische Generalstabskarte um 1820
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