Die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebietes

Buchvorstellung: Neue Perspektive auf den vor 125 Jahren gegründeten Wasserwirtschaftsverband

2 12.12.2024

Emscher-Region: Wie und warum wurde das Ruhrgebiet „erfunden“ – und welche Rolle spielte die Emschergenossenschaft dabei? Aufschlussreiche Antworten auf diese Frage (und viele weitere) spüren die beiden Wissenschaftler Prof. Dr. Eva-Maria Roelevink und Dr. Lutz Budrass in ihrer neuen Publikation „Die Macht der Entwässerung – die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“ (erschienen im transcript Verlag, ISBN: 978-3-8376-7431-6, auch als Open Access verfügbar) auf. Im Rahmen des von der Emschergenossenschaft erteilten Forschungsauftrags arbeiteten sie kritisch und unabhängig zu den Ursprüngen der Gründung von Deutschlands erstem Wasserwirtschaftsverband vor genau 125 Jahren. Zu Tage förderten Roelevink und Budrass Erkenntnisse, die eine bewusste Entscheidung der damals Raummächtigen in der Region für eine Trennung in einen „reichen Süden“ und in einen „dreckigen, proletarischen Norden“ nahelegen – kurzum: die „Erfindung“ des Ruhrgebiets! Gemeinsam mit der Emschergenossenschaft stellten die Autoren das Buch am Donnerstag – zwei Tage vor dem 125. Geburtstag der Emschergenossenschaft – im BernePark in Bottrop vor.

Über vier Jahre lang haben die Wirtschaftshistoriker*innen in den Archiven der Unternehmen, der Emscher-Städte, des Landes Nordrhein-Westfalen und der Emschergenossenschaft die bisher unbeleuchteten Aspekte aus der Vergangenheit des Verbandes recherchiert. Bereits die Gründung der Emschergenossenschaft und ihre rechtliche Konstruktion betrachten die Autor*innen als einen der spannendsten Abschnitte in ihrer Geschichte. Wie wurde diese Konstruktion ersonnen und welche Interessen bildeten sich darin ab? Warum brauchte es überhaupt eine Emschergenossenschaft? „Um es kurz zu machen: Federführend in der Gründungsdiskussion waren die Südstädte im Industrierevier nebst den mächtigen Landräten in den dortigen Kreisen. Gemeinsam mit den Unternehmen schmiedeten sie sich eine selbstverwaltete ‚Bad Bank‘, die die Verantwortung externalisieren und den Schmutz aus dem Industrierevier schaffen sollte“, sagt Eva-Maria Roelevink, Professorin für Wirtschaftsgeschichte und Industriearchäologie an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg.

Die Lösung war eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, die in einem hohen Maß selbständig und selbsttätig agieren konnte. Profiteure dieser neuen „Genossenschaft“ waren laut der Wissenschaftler*innen vor allem die großen Südstädte der Region: wie z.B. Dortmund, Bochum, Essen oder Duisburg und die Unternehmen. Die Ruhr wurde sauber und durfte der Region später sogar ihren Namen geben, während die Emscher für die (Industrie-)Abwässer der gesamten Region geopfert wurde. Ohne dieses Opfer wäre, so beschreiben es Roelevink und Budrass, das Wachstum von Industrie und Bergbau der Region so nicht möglich gewesen. Das Ruhrgebiet in der Form, wie wir es heute kennen, hätte es ohne Gründung der Emschergenossenschaft daher vermutlich nicht gegeben.

Emscher teilte Region in den reichen Süden und den schmutzigen Norden

Die effektive Teilung in ein südliches (angenehmes, schönes) und nördliches (vernachlässigtes, ignoriertes und „dreckiges“) Ruhrgebiet sei also eine Konsequenz des Umbaus der Emscher zur Cloaca Maxima. Die Autor*innen beschreiben diesen gezielten Eingriff als eine bewusste Entscheidung zur Zweiteilung der Sozialstruktur des rheinisch-westfälischen Industriebezirks, welche die Entstehung eines „Ruhrgebietes“ überhaupt erst ermöglichte. „Die Emschergenossenschaft war deshalb Teil einer ‚inneren Kolonisierung‘ des Industriegebiets, wie wir sie nennen“, sagt Dr. Lutz Budrass von der Ruhr-Universität Bochum. Die Nord-Süd-Trennung entstand mitnichten durch die heutzutage vielzitierte A40, die mitten durch die Region führt – vielmehr war es die abwasserführende Emscher, die als „flüssig-toxische Demarkationslinie“ festgelegt wurde.

Aus den Recherchen der Wissenschaftler will die Emschergenossenschaft Lehren ziehen. „Wir sehen die Erkenntnisse aus der Publikation als Auftrag, mehr denn je die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen. Der Emscher-Umbau war der erste Schritt – die Basis – für diesen Wandel. Wir betrachten es als unsere Pflicht, den Norden des Ruhrgebietes sozial und ökologisch wiederaufzuwerten, sodass es zukünftig keinen Nord-Süd Unterschied mehr geben wird – weder durch die A40 noch durch die Emscher“, sagt Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft.

Die wissenschaftlich fundierte Rückschau auf die Vergangenheit zeigt, dass es sich lohnt, die eigene Geschichte immer wieder auch kritisch zu hinterfragen. So interessant und überraschend es aus heutiger Perspektive erscheint, warum die Emschergenossenschaft genau in dieser Form entstanden ist und welche Beweggründe dahinterstanden – eines bleibt dabei dennoch unverändert: Die technische Ausgangslage für die Regulierung der Emscher und ihrer Nebenläufe war mit der Abwassermisere infolge der Industrialisierung und des Bergbaus – und vor allem nach der Entscheidung zur Gründung der Emschergenossenschaft – unumstritten. „Mit der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts stiegen die Bevölkerungszahl und die anfallenden Abwassermengen rasant an. Wegen des Bergbaus konnten keine unterirdischen Kanäle gebaut werden, die Emscher-Gewässer wurden als Kloaken gebraucht und missbraucht. Die Folge waren Überschwemmungen mit ungereinigten Abwässern. Der technische Ausbau der Emscher-Gewässer zu offenen Schmutzwasserläufen war daher alternativlos“, sagt Dr. Frank Obenaus, Technischer Vorstand der Emschergenossenschaft.

Die Publikation ist Open Access verfügbar und kann mit Eingabe des Buch-Titels oder der ISBN auf der Seite des transcript Verlages (transcript-verlag.de) kostenfrei heruntergeladen werden.

Zum Bild oben: Hochwasser waren gar nicht so selten an der Emscher. Hier ein Foto aus Unterfrintrop, vermutlich aus den 20er Jahren.

Zum Bild im Text: Die noch kurvenreiche Emscher in Dortmund im Jahr 1912: Überschwemmungen gehörten zur Tagesordnung. 13 Jahre zuvor war die Emschergenossenschaft gegründet worden mit dem Ziel, solche Bilder in Zukunft zu verhindern. © Archiv Emschergenossenschaft

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Kommentare

Kommentar von Rainer Seck |

Meines Wissens müsste das Foto um 1938 herum entstanden sein, aber nicht in Frintrop, sondern in Dellwig im Bereich der Wertstraße.
Die Kinder dürften hier über das Gelände der heutigen Gleisschleife an der Endhaltestelle der Linie 103 watscheln.
In der Nacht vom 29. auf den 30. August führten ungewöhnlich starke Regengüsse in Osterfeld, Bottrop und dem Essener Norden zu starken Verwüstungen. Ein Damm des Rhein-Herne-Kanals brach, ein Haus brach zusammen und eine Überlandleitung knickte um. Die Überschwemmungen gingen bis an die Grenzen Frintrops. Das zeigt die Ecke Zugstraße/Wertstraße mit der Tankstelle Evers (heute Wendeschleife der Straßenbahn). Etwa an der Gaststätte Borgemeister (Ecke Dellwiger Straße/Unterstraße) stand das Wasser noch tagelang.

Kommentar von Franz Josef Gründges |

Wir schreiben das Jahr 1938. Es regnet und stürmt ununterbrochen. Ein Unwetter sondergleichen. Einen Bericht darüber findet sich in der von Rektor Johannes Pesch verfassten Chronik der damaligen Richthofenschule über das Schuljahr 1938/39. Dort heißt es:

„Die Sommerferien vom 22.7. bis zum 31.8.38 brachten unserer Gegend verschiedene verheerende Unwetter. Am schlimmsten war es in der Nacht vom 29. zum 30. August. Aufgerissene Straßen und verschlammte Felder, umgewehte Bäume, Keller unter Wasser, meterhohes Wasser auf der Dellwiger Straße, Bäche gleich Wildwassern u. Strömen, ausgerissene Feldstücke, umgekippter Hochspannungsmast, versandeter u. für die Schifffahrt still gelegter Kanal, durchweichte und gesperrte Bahndämme, eingestürzte Mauern usw. sind Kennzeichen der Gewalt des Wassers. Alte Leute wissen sich nicht zu erinnern, dass jemals ein Unwetter solchen Ausmaßes hier getobt hat.“ - Dem Bericht fügte Rektor Pesch Fotos von den Zerstörungen am Kanal an, ergänzt um den Hinweis, dass der umgestürzte Mast der Hochspannungsleitung durch zwei Notmasten ersetzt wurde. Die Aufnahmen machte übrigens Felix Pesch, der Sohn von Rektor Pesch.

So viel zur Ergänzung und Konkretisierung des Artikels auf borbeck.de und zu den Anmerkungen von Rainer Seck.

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