Die Borbecker Krippe von Otfried Preußler

Vor 80 Jahren entstand die Krippe der Gefangenen von Kasan

0 21.12.2020

BORBECK. Diese fast unglaubliche Geschichte führt in die weite Welt, tief in die Geschichte und entstand in einer Zeit der Dunkelheit - als Zeichen für das Licht der Weihnacht. Es geht um das Schicksal eines zerbrechlichen kleinen Kunstwerks, einer Weihnachtskrippe, die vor einigen Jahren in der Alten Cuesterey zu sehen war. Vor ihr feierte Fredy Kleine-Möllhoff aus Borbeck in russischer Kriegsgefangenschaft 1944-1949 das Weihnachtsfest. An ihrer Entstehung war einer der später berühmtesten deutschen Schriftsteller beteiligt: Otfried Preußler. Noch heute wird sie immer noch jedes Jahr zum Fest aufgestellt – in Erinnerung an dunkle Jahre, Symbol der Sehnsucht nach der Heimat und Freiheit. Unsere Lesegeschichte zum Weihnachtsfest 2020.

Vier Jahre lag der verhängnisvolle Befehl vom 18. Dezember 1940 zurück: Mit dem „Unternehmen Barbarossa" hatte ein beispielloser Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begonnen, Hitler-Deutschland war mit drei Millionen Soldaten tief ins Land vorgestoßen. Es begann der „ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der modernen Geschichte“, wie der Historiker Ernst Nolte in seinem Werk über den Faschismus schrieb. Doch seit der Gegenoffensive der Roten Armee im Winter 1941 wendete sich das Blatt. Millionen fielen der Hybris der Diktaturen in der Blutmühle der über 2.000 Kilometer langen Ostfront zum Opfer, Hunderttausende vegetierten jetzt in Kriegsgefangenschaft. Wie in Kasan, der heutigen Hauptstadt der Republik Tatarstan: Dort standen sie auch im Lager 119 - heute vor 80 Jahren - vor dem Weihnachtsfest. Unter ihnen ein junger Borbecker ...

An der mächtigen Wolga

Mehr als 11 Stunden dauert heute der Flug dorthin, mit Zwischenstopp in Moskau, mit dem Nachtzug ist man über 41 Stunden unterwegs, mit dem Auto müsste man ebenfalls fast eine Woche Fahrt einplanen: Die Stadt mit ihren fast 1,3 Millionen Einwohnern liegt 2.700 Kilometer entfernt, noch 720 hinter Moskau, noch 400 Kilometer hinter der Essener Partnerstadt Nishni Nowgorod. Frühling und Herbst fallen dort extrem kurz aus und in diesen Tagen steht das Thermometer bei minus 16 Grad. Der Kreml der 1000-jährigen Festungsstadt an der mächtigen Wolga ist Weltkulturerbe, zahlreiche große Schriftsteller wie Maxim Gorki, Lew Tolstoi, Alexander Puschkin lebten hier, Wladimir Iljitsch Lenin wurde in der Nähe verbannt.

Beispielloser Vernichtungskrieg

Die große Mariä-Verkündigungs-Kathedrale der Stadt birgt die wundertätige Ikone der „Muttergottes von Kasan“. Seit der Zeit Iwan des Schrecklichen wird sie verehrt als Schutzpatronin ganz Russlands. Hierhin wanderten bereits unter Zarin Katharina II. ab 1763 Zehntausende  deutsche Siedler aus, auch sie bauten Kirchen und zahlreiche Siedlungen. Während des Ersten Weltkriegs wurden sie zum „inneren Feind“, durchstanden die Hungerjahre der Zwischenkriegszeit, Aufstände, Deportationen und Zwangsarbeit. Hunderttausende fielen den Säuberungen zum Opfer. Die kurzlebige Wolgadeutsche Republik war Geschichte, als aus der verhängnisvollen Allianz Stalins mit Nazi-Deutschland ein erbarmungsloser Krieg wurde. Fünf Jahre sollte nun das Morden toben. Es forderte in der Sowjetunion mindestens 27 Millionen Opfer, darunter mehr als 11 Millionen Soldaten der Roten Armee. Drei Millionen von ihnen starben in deutscher Kriegsgefangenschaft.

Auch für die für diesen ideologisch und rassistisch motivierten Krieg ausgehobenen deutschen Wehrmachtssoldaten wurde die „Ostfront“ schnell zum Inbegriff eines frühen Todes. Hier starben mehr als die Hälfte der deutschen Gefallenen an allen Fronten des gesamten Krieges: 2,7 Millionen ließen dort ihr Leben, dazu 1,1 Millionen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Die 3.060.000 Internierten litten unter katastrophalen Lebensbedingungen, dem harten Klima, Unterernährung, Seuchen, Entkräftung durch die langen Transporte und schwere Arbeit, auch führten mangelnde ärztliche Behandlung und Verpflegung in den rund 2.500 Einzellagern zu den außerordentlich hohen Sterblichkeitsraten. Das weite russische Land, das ihre Armeen überfallen hatten, war verwüstet, entvölkert, zerstört, Massenverbrechen an Zivilisten hatten eine blutige Spur gezogen. Und erst am 2. Mai 1945 war der von den Nationalsozialisten entbrannte Krieg beendet - mit der Eroberung Berlins durch die Sowjettruppen.

Gefangen in Kasan

Als man weit entfernt im Westen die Rote Fahne auf dem Brandenburger Tor hisste, wird das ein junger Borbecker damals kaum mitbekommen haben: Fredy (Friedrich) Kleine-Möllhoff war seit 1944 Kriegsgefangener in einem der 135 Einzellager der Wolgaregion. In St. Dionysius war er als Jugendlicher in der Pfarrjugend aktiv gewesen und gehörte zur „Sturmschar“ im Katholischen Jungmännerverband Deutschlands. Sie hatten in ihrer Weise die Verblendung der Zeit kritisiert, Widerstand geleistet, sich selbstbewusst mit der Hitlerjugend geprügelt, den Terror auf den Straßen gesehen und waren ab 1935 endgültig verboten worden. Jetzt waren sie seit Jahren von Zuhause getrennt, hatten das große Sterben und den gehassten Krieg am eigenen Leib erlebt.

Doch immerhin - Fredy hatte bisher überlebt, saß nun hinter Stacheldraht in Kasan und traf dort auf einen fast gleichaltrigen jungen Kameraden: Otfried Preußler, der aus dem nordböhmischen Reichenberg stammte. Er war nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Abitur wie die meisten Angehörigen seines Jahrgangs von der Schulbank weg 1942 eingezogen worden. Zwei Jahre später saß der 21-jährige Leutnant jetzt in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Wie lange sie nun in Kasan bleiben würden, wussten beide damals noch nicht. Auch nicht, ob sie überhaupt überleben.

Butterbrotpapier und Dachpappe

Aber Weihnachten wollten sie feiern. Draußen klirrte die knackige Kälte des russischen Winters, als in den Gefangenenbaracken dazu ein anrührendes, zerbrechliches Kunstwerk entstand - eine sehr ungewöhnliche Weihnachtskrippe. Otfried Preußler lieferte den Entwurf und die Zeichnung, von Fredy Kleine-Möllhoff wurder sie im eisigen Lager gebaut. Gefertigt aus Dachpappe und Transparentpapier, das von hinten durch eine Kerze erleuchtet wurde, hielt sie in einer fast fünfjährigen Kriegsgefangenschaft an der Wolga die Erinnerung an die Bedeutung des Festes wach - in der Hoffnung, bald wieder nach Hause zu kommen und irgendwann endlich die Familie wieder zu sehen.

Hoffnungszeichen in der Gefangenschaft

2014/15 wurde diese Krippe erstmals öffentlich in der „Alten Cuesterey“ in Borbeck gezeigt. „Ich vermute, dass es gar nicht so einfach war, damals überhaupt das Material dafür zu finden“, erläuterte Dr. Baldur Hermans, der in Borbeck damals zum Team für die Jahresausstellung des Kultur-Historischen Vereins Borbeck gehörte. „Mit dem Butterbrotpapier packte man wohl in der Kriegsgefangenschaft die Tagesration für die Arbeit ein, auch die Farben für das Ausmalen war nicht leicht heranzukommen.“

So mag es sein, dass auch aus diesem Grund die Bilder in drei Etappen entstanden: In der ersten Kriegsweihnacht im Lager 1944 standen Josef und Maria an der Krippe, im zweiten Jahr der Gefangenschaft kamen auf der linken Seite die Hirten dazu, im dritten Jahr die Weisen aus dem Morgenland, die sich von der rechten Seite dem Christkind nähern. „Und so entstand über die Jahre ein Triptychon“, beschrieb Hermans die kleine durchsichtige Krippenlandschaft. „Für sie war es vielleicht ein Hoffnungszeichen, dass die Gefangenschaft bald dem Ende zugeht.“

Von vorne beginnen

Doch die Zeit der Entbehrungen sollte weit länger dauern: Die Hoffnung auf schnelle Rückkehr nach dem offiziellen Kriegsende 1945 zerschlug sich, die Jahre vergingen. Erst 1949, fünf Jahre nach ihrer Gefangennahme, kehrten beide zurück in die Heimat - gezeichnet von der Haft: Als Otfried Preußler, der in verschiedenen russischen Lagern wie Jelabuga überlebt hatte, im Juni 1949 entlassen wurde, lag eine harte Zeit hinter ihm. Er litt unter Typhus, Malaria und Fleckfieber und war bis auf 40 Kilogramm Körpergewicht abgemagert. Jetzt fand er im oberbayerischen Rosenheim seine Angehörigen und seine Verlobte wieder, heiratete und musste mit 26 Jahren wieder ganz neu beginnen. Er wählte den Lehrerberuf, arbeitete als Lokalreporter und begann zu Schreiben.

Welterfolge

Sein großes Fabuliertalent und seine Erzählkunst hatte er just in den Lagern der Gefangenschaft geübt, wie er später bekannte. Und beide Talente setzte er jetzt als Schriftsteller ein. 1956 war „Der kleine Wassermann" der erste große Erfolg, 1957 folgte „Die kleine Hexe". Sie waren der Beginn einer ungeheuer produktiven Liste von Veröffentlichungen: Kater Mikesch (1962), Der Räuber Hotzenplotz (1962), Das kleine Gespenst (1966), Die Abenteuer des starken Wanja (1968), Neues vom Räuber Hotzenplotz (1969), Krabat (1971) und viele weitere machen ihn zu einem der größten deutschen Geschichtenerzähler überhaupt. 32 Bücher, für die Preußler zahlreiche deutsche und internationale Auszeichnungen erhielt, wurden in 55 Sprachen übersetzt, die weltweite Gesamtauflage stieg auf rund 50 Millionen Exemplare, zahlreiche Werke wurden verfilmt. Der Autor, der als freier Schriftsteller am Chiemsee lebte, starb am 18. Februar 2013 im Alter von 89 Jahren.

Doch die Erfahrungen des Krieges ließen ihn nie los. Obwohl er darüber niemals schrieb oder erzählte: Über Jahrzehnte unterstützte Otfried Preußler großzügig den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge - im Gedenken an all seine Kameraden, die er im Krieg und in der Gefangenschaft hatte sterben sehen.

Die Krippe überlebte

Die Krippe aber, die er 1944 im eisigen Kasan entwarf, verschwand in all diesen Jahren nicht. Fredy Kleine-Möllhoff, der sie gebaut hatte, versteckte sie bei seiner Entlassung zwischen zwei dünnen Brettern im Zwischenboden des Rucksacks. Er schmuggelte sie durch alle Lagerkontrollen in Kasan  und erreichte mit ihr nach Tausenden Kilometer unbeschadet das Ruhrgebiet. Seitdem wurde sie immer zu Weihnachten als Familienkrippe in Essen aufgebaut – heute eingefügt in ein hölzernes Gehäuse. Eine Erinnerung und ein „Überlebenszeichen“ aus einer schweren Zeit, die Brücke einer Freundschaft, die blieb. Ende der 70er Jahre schrieb der inzwischen berühmt gewordene Schriftsteller Otfried Preußler an Fredy Kleine-Möllhoff in Borbeck: „Über deinen Brief vom 17. Januar habe ich mich sehr gefreut. „Herzlichen Dank dafür. Und ganz besonders herzlichen Dank für die beiden Fotos von der Essener Weihnachtskrippe. Was für ein Wiedersehen und welche nachträgliche Weihnachtsfreude für mich.“

Als die Krippe für die Ausstellung des Kultur-Historischen Vereins Borbeck 2014 in der Alten Cuesterey bei Elmar Kleine-Möllhoff angefragt wurde, stellte die Familie sie gerne zur Verfügung – auch den Brief von Otfried Preußler. Beides fand beim Publikum am Weidkamp einen außerordentlichen Zuspruch, wie das Ausstellungsteam um Dr. Baldur Hermans damals feststellte: „Die Leute interessieren sich natürlich einmal für das Schicksal der Krippe, dafür, wie sie zustande gekommen ist. Und natürlich ist so etwas auch eine Erinnerung an eine Zeit, die für sie auch zu Hause eine schwere Zeit war.“

Zeichen der Hoffnung

Mag die bis heute erhaltene Borbecker Kriegskrippe aus Kasan ein sehr außergewöhnliches Zeichen aus der Vergangenheit sein: So ist es vielleicht auch bei vielen anderen Krippen, die in diesen Tagen aufgestellt wurden. Jede hat ihre ganz eigene Geschichte, birgt Erinnerungen, steht für vieles, was vielleicht nicht einfach in Worte zu fassen ist. Liebevoll aufgebaut, möglichweise immer wieder ergänzt und neugestaltet, verbindet sie über die Zeit. Denn viele Krippen, die in diesen Tagen aus den Kellern oder von Dachböden geholt wurden, haben ihr ganz eigenes Schicksal, das eng mit der Familie verbunden ist. Mögen sie unter den Trümmern zerbombter Häuser herausgeholt worden sein oder aus neuerer Zeit stammen: „Sie stehen auch als Zeichen der Generationenverbundenheit“, deutete damals der 2015 verstorbene Historiker Dr. Baldur Hermans ihre Rolle in der Weihnachtszeit.

Jedes Jahr in diesen Tagen wird die Botschaft der biblischen Erzählung von der Geburt Jesu in einer besonderen Weise konkret. Im täglichen Unfrieden, in allen Sorgen und Unwägbarkeiten, in allen Verblendungen, Schrecken und Verirrung aller Zeiten steht das Bild der Krippe als Zeichen für eine entscheidende große Zusage: „Friede auf Erden allen Menschen guten Willens!“ Die Hoffnung bleibt. Und mit ihr die unstillbare Sehnsucht nach einer heilen, versöhnten, solidarischen und friedlichen Welt.

Christof Beckmann

Bild oben: Die Krippe unter Meßgewändern und Sternsingerumhängen in der Ausstellung mit dem Titel „Es ist guter Brauch ...” - von Erntedank bis Lichtmess“. Sie wurde vom 15. November 2014 bis 4. Januar 2015 in der Alten Cuesterey am Weidkamp gezeigt und rpäsentierte Bräuche und Festtermine in der Winterzeit. Knapp 50 Leihgeber beteiligten sich damals, zahlreiche Helfer vermittelten, berieten und halfen bei der Gestaltung.

Das Ausstellungsteam bestand aus Dr. Baldur Hermans, Dr. Christof Beckmann, Jürgen Becker, Hannelore Diekmann, Andreas Koerner, Heinz-Werner Kreul, Wolfgang Marsching, Heinz Meier, Jürgen Raudszus und P. Johannes Wielgoß SDB.

Zur Ausstellung (BIld oben) erschien auch eine 60-seitige Begleitbroschüre: „Es ist guter Brauch ...” - von Erntedank bis Lichtmeß“. BEGLEITER zur Ausstellung, B. Hermans, Chr. Beckmann, P. Johannes Wielgoß SDB, A. Koerner, U. Bohn und Alte Synagoge Essen, 15.November 2014 bis 4.Januar 2015 in der Alten Cuesterey, Essen-Borbeck. Kultur-Historischer Verein Essen-Borbeck e.V. – dort sind aktuell noch Exemplare zu bekommen. Bild unten: Die „Alte Cuesterey" am Weidkamp in Borbeck.

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