Der Borbecker Eingemeindungsvertrag von 1914 und sein 110jähriges Erbe

Standesamt - Polizei – Medizin – Talmulden - Amtsgericht - Schulen

0 17.05.2024

Borbeck. Vor wenigen Wochen feierte der Eingemeindungsvertrag seinen 110. Geburtstag:  Er wurde am 10. März 1914 geschlossen und trat ein Jahr später in Kraft. Das damals selbstständige Borbeck wurde nach Essen eingemeindet und verlor damit seine kommunale Selbstständigkeit.

Dennoch konnten die Borbecker Stadtväter in den Vertragsverhandlungen wichtige Forderungen durchsetzen. Dazu gehört die Erhaltung des „Polizeibezirksbüros“, des Standesamtes, der medizinischen Versorgung sowie der schulischen Angebote. Außerdem wird der Schutz der „Talmulden“ vereinbart. Auch wird der Stadt Essen die Standortsicherung des Amtsgerichts auferlegt. Zwar werden die Forderungen nicht dogmatisch erhoben. So sollen einzelne Forderungen beispielsweise nur „möglichst“ erfüllt werden. Gleichwohl sind sie als politische Aufträge verbindlich.

Die folgenden Ausführungen sollen beispielhaft veranschaulichen, wie die Stadt Essen mit ihren vertraglichen Verpflichtungen im Verlauf der Jahrzehnte umgegangen ist. Aufschlussreich ist dabei die Frage, ob die Stadt Essen bei überörtlichen Planungsträgern die Borbecker Belange immer konsequent vertreten hat.

Standesamt

Lange Zeit hielt die Stadt Essen ihre Bestandsgarantie für das Standesamt ein. Zunehmende Sparzwänge der Kommunen führten aber am 30. September 1981 zu einem Ratsbeschluss, der dem Regierungspräsidenten in Düsseldorf die Reduzierung der Anzahl der Essener Standesämter empfahl: Zentralisierung statt Dezentralisierung hieß in Essen die Devise. Im Jahr 1989 folgten die konkreten Anträge für eine Neuorganisation der Standesämter sowie für eine Neuordnung der Standesamtsbezirke. Das bedeutete: Borbeck würde sein Standesamt verlieren.

Es begannen Auseinandersetzungen um seinen Erhalt. Begründet wurde dieses Vorgehen nicht nur mit dem Hinweis auf die im Eingemeindungsvertrag gemachte städtische Zusage der Bestandsschutzes, sondern auch mit der gesellschaftlich immer deutlicher geforderten – in diesem Fall auch räumlichen - Bürgernähe.

Unter den zahlreichen Funktionen des Amtsgerichtes wurde schon bald die Möglichkeit priorisiert, auch weiterhin amtliche Eheschließungen vornehmen zu können. Im Ergebnis gelang es, dafür nach jahrelangem Einsatz im Schloss Borbeck einen Traubereich einzurichten.

Auf diese Weise konnte dem Standesamt Borbeck zwar nicht der gesamte Umfang des Personenstandswesens erhalten werden. Aber immerhin kann im Schloss Borbeck weiter geheiratet werden.

„Polizeibezirksbüro“

Die Neuorganisation der Polizeipräsidien Essen und Mülheim in den Jahren 2007 und 2008 hatte auch in Borbeck große Verunsicherung ausgelöst. Ab dem 1. Januar 2007 wurden nämlich die Polizeipräsidien der beiden Städte gemeinsam unter dem Dach des Polizeipräsidiums Essen geführt. Befürchtung: Die Borbecker Polizeiwache könnte im Widerspruch zum Eingemeindungsvertrag weiteren organisatorischen Änderungen zum Opfer fallen.

Der Borbecker Bürger- und Verkehrsverein griff darum die Bitte besorgter Bürgerinnen und Bürger auf und schrieb die Polizeipräsidentin an. Von ihr kam Entwarnung.  „Ich teile Ihnen mit“, war in der Antwort im Januar 2008 zu lesen, „dass es von hier aus keinerlei Bestrebungen gibt, die Polizeiwache Borbeck zu schließen. Gerüchte in diese Richtung sind haltlos.“

Als aber in den Folgejahren die Besuchsfrequenzen in der Borbecker Wache abnahmen, empfahl die Polizeidirektion verkürzte Öffnungszeiten und dafür mehr Präsenz auf der Straße. Die Öffnungszeiten wurden dem Bedarf angepasst, die so eingesparten Dienststunden wurden dem Streifendienst zugeordnet.

Zusätzlich hat der Bereich zwischen Dellwig, Katernberg und Altendorf – die Polizeiwache Borbeck gehört zu dieser „Polizeiinspektion 3 Nord“ – eine neue Kradstaffel erhalten. Sie verstärkt den Einsatz für Recht und Ordnung auf der Straße.

Medizinische Versorgung – Krankenhaus

Gegen den Widerstand des Borbecker Bürgermeisters Rudolf Heinrich, der für ein Krankenhaus in der Trägerschaft einer katholischen Kirchengemeinde keine Zukunft sah, legte die Pfarrei St. Dionysius im Jahr 1893 den Grundstein für den Bau des Philippusstiftes.

Bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erfuhr das Krankenhaus mehrere Um- und Erweiterungsbauten, von denen der 1925/26 errichtete zentrale Neubau bis heute den Mittelpunkt des Gebäudeensembles bildet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden - so weit möglich - die Kriegsschäden im Zuge einer Generalsanierung beseitigt, außerdem wurde das Gebäude um einen Anbau erweitert.

Existentiell gefährdet wurde das Krankenhaus im Jahr 2018, als der Klinikbetreiber Contilia ankündigte, das Marienhospital Altenessen zum einzigen Krankenhausstandort im gesamten Essener Nordwesten auszubauen und gleichzeitig das Philippusstift in ein ambulantes Versorgungszentrum ohne stationäre Betten umzuwandeln.

Diese Pläne stießen auf Widerstand. Ein neues und modernes Krankenhaus in Altenessen könne – so die einhellige Meinung – den im Großraum Borbeck entstehenden Verlust keineswegs ausgleichen. Denn die Borbecker Kliniken „Haus Berge“, „Franziskus“ und „Bethesda“ seien schon vor Längerem geschlossen worden. Zwar wolle man nicht abstreiten, dass stattdessen eine geriatrische Fachklinik an der Germaniastraße und ein Seniorenheim an der Laarmannstraße entstanden seien – zwei Einrichtungen von hoher Bedeutung.  Diese seien aber kein Ersatz für die drei aufgegebenen Akutkrankenhäuser.

Zwei Jahre später kam dann die überraschende Kehrtwende: Die Contilia-Gruppe gab bekannt, ihre Krankenhäuser in Stoppenberg und Altenessen zu schließen, mit jeweils neuen medizinischen Angeboten auszustatten und das Philippusstift in Borbeck in Übereinstimmung mit dem Eingemeindungsvertrag zu erhalten und auszubauen.  

Die „Talmulden“ und die Siepenlandschaft

Die Siepenlandschaft im Essener Westen ist seit jeher in planerischen Zielkonflikten mit anderen als Grünplanungen. Im Eingemeindungsvertrag erwiesen sich die Borbecker Stadtväter als weitsichtige Umweltschützer – zu einer Zeit, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Sie legten nämlich in den Verhandlungen fest, dass die „landschaftlich schönen Talmulden möglichst als öffentliche Anlagen zu erhalten“ sind. Die „Talmulden“ sind nichts anderes als die Borbecker Siepentäler. Diese gehören heute planerisch zum so genannten Regionalen Grünzug B, der das Herz des Ruhrgebiets von Bottrop über Oberhausen, Mülheim und Essen nach Süden durchzieht.

Seit den 1960er-Jahren bedrohen Großprojekte wie Autobahn, Justizvollzugsanstalt, Umspannwerke, Paketverteilungszentrum, Golfanlagen, Deponien, veraltete überdimensionierte Kanäle, Gewerbegebiete in der Größe des Schlossparks sowie eine schleichende und zunehmende Arrondierung von Wohnflächen die grüne Oase.  

Der große Einsatz der Borbecker Bevölkerung für eine intakte Umwelt konnte diese Planungen verhindern, verbessern, ihre Umsetzung verlangsamen oder Alternativen vorlegen.  Mehr noch: Es konnte erreicht werden, dass Kernbereiche von Winkhauser- und Kamptal sowie der Schönebecker Schlucht unter Naturschutz gestellt wurden. Für das Hexbachtal steht der Borbecker Teil unter Landschafts-, der Mülheimer Teil unter Naturschutz

Amtsgericht Essen-Borbeck

Am 1. Oktober 1879 wurde das Königlich Preußische Amtsgericht Borbeck an der heutigen Ecke Rechtstraße/Gerichtsstraße eröffnet. Bei einem Luftangriff im Zweiten Weltkrieg brannte das Gericht am Abend des 13. März 1943 aus und musste deshalb nach Kriegsende ab 1945 seine Tätigkeit im Essener Landgericht ausüben.

Da das Gebäude des Landgerichts ebenfalls beschädigt worden war, reichten die Räumlichkeiten für Land- und Amtsgericht nicht aus. Aus diesem Grund und unter Hinweis auf die Auflagen des Eingemeindungsvertrages setzten sich Träger öffentlicher Belange für die Rückkehr des Amtsgerichts Borbeck nach Borbeck ein: Am 3. November 1953 wurde es an der Marktstraße – früher Borbecker Straße - wiedereröffnet.

Der Verlust zahlreicher Kompetenzen führte 1966 zu Bürgerversammlungen, in denen Widerstand gegen diese Maßnahmen angekündigt wurde. Die Furcht vor einer Schließung des Amtsgerichts Borbeck konnte erst durch ministerielle Zusagen zerstreut werden.

In den Jahren 1964 bis 1967 wurde das Amtsgericht Borbeck baulich erweitert.

Anfang November 2006 entschied das NRW-Justizministerium, die Schließung der Vorortgerichte in NRW – folglich auch des Amtsgerichts Essen-Borbeck -   zugunsten von Justizzentren zu prüfen. Diese Absicht stieß erneut auf Ablehnung in Borbeck, das seine Infrastruktur erheblich gefährdet sah. Der Widerstand des Borbecker Bürger- und Verkehrsvereins sowie von Vertretern aus Landtag, Bürgerschaft und Justiz hatte zur Folge, dass letztlich die Pläne zur Schließung des Amtsgerichts Borbeck aufgegeben werden mussten.

Schulen

Schul- und Stadtentwicklung waren für die Borbecker Stadtväter eng miteinander verbunden. Noch bei der Grundsteinlegung für das 1901 an der Prinzenstraße übergebene Gymnasium Borbeck verfolgte Bürgermeister Heinrich nämlich das Ziel, mit der Gründung des Gymnasiums die Stadterhebung des Industriedorfes Borbeck zu befördern. Der Versuch misslang. Denn nennenswerte Zuzüge zahlungskräftiger bürgerlicher Kreise und Steuerzahler mit aufstiegsorientierten Söhnen blieben aus.

Auch der Neubau stand unter keinem guten Stern und litt unter Fehlplanungen und mangelhafter Koordination des „Communalbaumeisters“ Voßkühler. So entging ihm etwa, dass sich unter dem Gebäude gewaltige von Kohle leergeräumte Hohlräume befanden, die nur wenige Jahre nach dem Bau der Schule dort erhebliche Schäden verursachten. Schließlich wurde auch noch bekannt, dass Voßkühler für den Bau des Borbecker Gymnasiums einfach den Bauplan des Gymnasiums an der Prinz-Georg-Straße in Düsseldorf abgekupfert hatte.

Darüber hinaus unterliefen ihm auch bei der Umsetzung anderer Pläne im Bereich der Stadtentwicklung so viele Fehler, dass sich sogar die moderne städtebauliche Forschung mit seinen Fehlleistungen befasste: Umständliche Erläuterung der seelischen Störung eines Communalbaumeisters in Preußens größtem Industriedorf oder die Unfähigkeit zur Stadtentwicklung hieß das 1979 erschienene Buch des Universitätsprofessors Lutz Niethammer.

Dennoch: Das Gymnasium Borbeck konnte im Jahr 1901 in Betrieb gehen und sich mit Rückendeckung des Eingemeindungsvertrags im Verlauf der Jahrzehnte kontinuierlich weiterentwickeln.

Eine erste große Bewährungsprobe hatte die Schule nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu bestehen. Vertreter der Stadt Essen plädierten nämlich dafür, die erheblich beschädigte und teilweise zerstörte Schule nicht wieder aufzubauen. Energisches Einschreiten Borbecker Volksvertreter konnte dies verhindern.

Eine weitere Herausforderung kam in den 1980er-Jahren auf die Schule zu, als der städtische Schulentwicklungsplan das Auslaufen des Gymnasiums Borbeck und seine Überleitung in eine Gesamtschule vorsah. Auch diesmal konnte sich die Schule als Gymnasium durchsetzen.

Besonders bedrohlich wurde es für das Gymnasium Borbeck und die meisten anderen Borbecker Schulen, als jahrzehntelang ausgebliebene oder nur ungenügend durchgeführte Renovierungs- und Sanierungsmaßnahmen zu einem baulichen Verfall vieler Schulgebäude geführt hatten.

Nicht planerische Entscheidungen gefährdeten jetzt die Umsetzung des Eingemeindungsvertrags, sondern die lange von der Stadt Essen vernachlässigte und deshalb marode gewordene Bausubstanz brachte die Schulen in existentielle Schwierigkeiten.

In dieser Notlage schlossen sich Borbecker Schulen aller Schulformen auf Initiative des Gymnasiums Borbeck zusammen.

In ihren Resolutionen 1 und 2 der Jahre 1991 und 2001 forderten sie die Stadt Essen als Schulträger auf, ihren gesetzlichen Verpflichtungen zur Erhaltung der Bausubstanz der Borbecker Schulen regelmäßig nachzukommen.

Das Anliegen der Borbecker Schulen aller Schulformen weitete sich auf die gesamte Stadtebene aus und führte allmählich zu einem Umdenken in den städtischen und staatlichen Entscheidungsgremien sowie in der Bevölkerung.

Generalinstandsetzungen und Neubauten waren die Folge.

Als ein weiterer Schritt in diese Richtung wird der Besuch von Oberbürgermeister Thomas Kufen am 6. Juni an der Prinzenstraße gesehen. Bei dieser Gelegenheit übergibt er nämlich den sanierten Anbau des Gymnasiums Borbeck als letzte Stufe eines seit Jahren entwickelten Areals von Sport- und Versammlungsstätte seiner Bestimmung.

Die vielfältigen Angebote dieses Ensembles werden dem gesamten Stadtbezirk Borbeck zur Verfügung stehen und sind deshalb durchaus als im Sinne des Eingemeindungsvertrags zu verstehen.


Autor: Wolfgang Sykorra

Quellen:

  • Klaus Lindemann: Dies Haus, ein Denkmal wahrer Bürgertugend. Das Gymnasium Borbeck seit der Kaiserzeit, Essen 2005
  • Wolfgang Sykorra: Der „Essener Borbecker Bürger- und Verkehrsverein“ zwischen Stadt- und Schulentwicklung. Bürgerschaftliches Engagement im Ruhrgebiet, Essen 2009
  • Franz Josef Gründges: Das Standesamt Borbeck. Ein Beispiel für stadtbürgerliches Engagement. In: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 128 (215), S. 223-260
  • Wikipedia-Artikel „Polizeipräsidium Essen“ und „Philippusstift Essen“. Abgerufen am 16. Mai 2024
  • Themenbezogene Presseartikel sowie www.justiz.nrw.de ,Historie. Amtsgericht Essen-Borbeck`. Abgerufen am 15. Mai 2024
  • Wolfgang Sykorra: Von den ´Talmulden` zum Regionalen Grünzug B. In: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 128 (215), S. 261-296    

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