Älteste Glocke Borbecks schlägt nicht mehr

Große Rätsel um vergessene Kunstwerkwerke

0 16.04.2022

BORBECK. Dass die Kirchturmglocken in jedem Jahr an den Kartagen schweigen, möchte man gar nicht glauben. Hin und wieder hört man sie dann doch immer wieder die Stunde schlagen. Früher aber war es still – denn die Zeit blieb an den Tagen der Trauer einfach stehen, Gottesdienste fanden bis zur Osternacht nicht statt. Und überhaupt gab es ja dafür eine Erklärung, die zwar kaum überzeugend war, dennoch sicher die Phantasie anregte: Die Glocken aller Türme fliegen bis zum großen Osterläuten nach Rom – so hieß es jahrhundertelang.

Doch von manchen Reisen kehren Glocken gar nicht mehr zurück - weil die Kirchen geschlossen wurden. Daran haben wir bereits im letzten Jahr erinnert. Der Anlass damals: Wir gingen dem Schicksal des dreistimmigen Bronzegeläuts der ehemaligen Kirche St. Maria Immaculata nach, das in diesem Jahr im 1.400 Kilometer entfernten Ungarn die Botschaft der Osternacht verkündet. Die Spuren der ehemaligen Immaculata-Glocken hatten wir bis in die Pfarrei Mariä Heimsuchung in Nemesnádudvar verfolgen können, das 1724 von deutschen Siedlern in Südungarn gegründet wurde. Diesmal gilt auf borbeck.de unsere kleine Beobachtung zu Ostern zwei Glocken, die selbst aus der Ferne zu uns kamen. Jetzt klingen sie zwar nicht mehr, jedoch sind sie nicht verschwunden ...

Überraschung mitten in Borbeck

Und nun gibt es eine dicke Überraschung: Die wahrscheinlich älteste sicher datierbare Glocke im ganzen Stadtbezirk IV steht wohlverwahrt auf dicken Holzbohlen mitten in Borbeck, ist sogar eine der wirklich ganz alten Glocken in der ganzen Stadt und offensichtlich bislang so unbekannt, dass sie nicht einmal im über 300-seitigen Werk „Glocken im Stadtdekanat Essen“ von Gerhard Hoffs vermerkt ist.

Glocken nach Alter im ehemaligen katholischen Dekanat Essen-Borbeck

Gussjahr

Ortsteil

Kirche

Herstellende Glockengießerei

1897

Essen-Frintrop

St. Joseph

Karl (I) Otto, Fa. F. Otto, Hemelingen bei Bremen (1)

1901

Essen- Bergeborbeck

St. Mariä Rosenkranz

Karl (I) Otto, Fa. F. Otto, Hemelingen bei Bremen (1)

1926

Essen- Schönebeck

St. Antonius Abbas

Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation (3)

1933

Essen-Frintrop

St. Joseph

Fa. Petit & Gebr. Edelbrock, Gescher (1)

1947

Essen-Borbeck

St. Johannes Bosco

Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation (4)

1955

Essen-Borbeck

St. Dionysius

Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation (5)

1955

Essen-Frintrop

St. Joseph

Wolfgang Hausen – Mabilon, Fa. Mabilon & Co., Saarburg (1)

1958

Essen-Borbeck

St. Maria Immaculata

Friedrich Wilhelm Schilling, Glockengießerei Heidelberg (3)

1958

Essen-Frintrop

Herz Jesu

Wolfgang Hausen-Mabilon, Fa. Mabilon & Co.,Saarburg (5)

1959

Essen-Dellwig

St. Michael

Hans Georg Hermann Maria Hüesker, Fa. Petit & Gebr. Edelbrock, Gescher (5)

1959

Essen-Gerschede

St. Paulus

Wolfgang Hausen – Mabilon, Fa. Mabilon & Co., Saarburg (5)

1966

Essen-Bedingrade

St. Franziskus

Hans Georg Hermann Maria Hüesker, Fa. Petit & Gebr. Edelbrock, Gescher (5)

Glockensterben für den Krieg

Wie die oben für Borbeck in Auszügen gewonnene Übersicht zeigt, stimmen Gründung der Kirchen und Alter der dort hängenden Glocken fast kaum überein. Das hat leider einen traurigen Grund: Denn schon im Ersten Weltkrieg wurden nach Schätzungen im Deutschen Reich rund 65.000 Glocken eingeschmolzen, um daraus Waffen für den Krieg zu schmieden. Nur wenig später wurde das im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten ab 1940 befohlene „Glockensterben“ weiteren rund 45.000 Glocken in Deutschland zum Verhängnis. Selbst Glocken aus dem Mittelalter sowie dem 16. und 17. Jahrhundert wurden nicht verschont – auch in der ältesten Borbecker Kirche St. Dionysius nicht. Nur wirklich historisch wertvolle Glocken und Stahlglocken überlebten.

Fast alle der aus den Kirchtürmen geraubten Geläute wurden in zwei Hüttenwerke in der Nähe des Hamburger Hafens transportiert, wo sie auf einem riesigen Glockenfriedhof gestapelt auf ihr Ende warteten. Für die vollständige Vernichtung jedoch reichten die Kriegsjahre nicht aus: Von insgesamt 90.000 - auch aus den besetzten Ländern - eingezogenen Glocken blieben zuletzt rund 15.000 übrig, allein 10.000 standen etwa nach Kriegsende noch auf dem Glockenfriedhof in Hamburg-Veddel, 2.000 bei den Hüttenwerken Kayser AG in Lünen. Viele waren für immer beschädigt und trugen bleibende Spuren davon.

Vor 70 Jahren in den Turm von St. Thomas Morus

Und nun mag es gut sein, dass die oben genannte wohl älteste sicher datierbare Glocke im Umkreis aus diesem Fundus stammt. Hier endlich die Auflösung: Sie hing im Kirchturm der Kirche St. Thomas Morus, die vor bald 70 Jahren, am 13. Juli 1952, unter Pfarr-Rektor Albert Schmidt eingeweiht wurde. Wie sie nach Vogelheim kam, wer sich dafür verwendet hatte und warum ausgerechnet sie in die Auswahl kam? Vielleicht kann sich dazu noch jemand aus der Gemeinde erinnern. Fest aber steht: Sollte sie zunächst aus ihrer Heimat über 900 Kilometer weit schon nach Hamburg gereist sein, hatte sie als Heimatvertriebene schon damals eine lange Fahrt hinter sich.

Sicherung der Glocken nach dem Abriss von St. Thomas Morus in Vogelheim (Foto: Andreas Koerner, Kultur-Historischer Verein Borbeck)

Die Glocke kam aus Königsberg in Ostpreußen

Wie die Inschrift auf der Glocke zeigt, stammt die Glocke aus Königsberg in Ostpreußen – rund 1.300 Kilometer Luftlinie von Borbeck entfernt. Noch bevor der Bombenhagel die berühmte ferne Universitätsstadt im August 1944 in Schutt und Asche legte, verließ die Glocke die damals rund 370.000 Einwohner zählende Ostsee-Stadt, in der es vor dem Kriegsende 35 Kirchen gab. Seit 1724 war sie Königliche Haupt- und Residenzstadt, wurde vor dem Kriegsende russisch besetzt, 1946 in Kaliningrad umbenannt, fast vollständig eingeebnet und zur Hauptstadt des gleichnamigen Oblast. Das gesamte nördliche Ostpreußen wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt, von Russen neu besiedelt und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 eine von Polen und Litauen umschlossene Exklave Russlands an der Ostsee.

Königsberg, große Gesamtansicht mit figürlicher Staffage im Vordergrund. Kupferstich nach F. B. Werner bei G. B. Probst, Augsburg, um 1760, auf 2 Platten gedruckt und zusammengesetzt mit Titelschriftband und drei Wappen

Glockengießer in der Perle an der Ostsee

Königsberg war ursprünglich 1255 vom Deutschen Orden als Burg gegründet worden und nahm als Mitglied der Hanse einen starken Aufschwung. Die Stadt war seit 1525 reformiert, 1544 Universitätsstadt und wurde einer der wichtigsten Orte des 1700 gegründeten neuen Königreichs Preußen. Der berühmteste Sohn der Stadt, Immanuel Kant, machte sie zu einem Zentrum der Philosophie und der wichtige Verkehrsknotenpunkt entwickelte wirtschaftlich erfolgreiche Betriebe. Besonders bekannt unter ihnen waren bereits seit 1600 die örtlichen Geschütz- und Glockengießer.

Als bekannteste Glockengießer Königsbergs galten Michael Dormann und Hannibal Brors, der das Gießverfahren verbesserte und mechanische Werkzeuge zur Erleichterung des Läutens erfand. Ab 1633 soll die Familie Dormann über 150 Glocken gegossen haben. Aus der schließlich in Elbing tätigen Gießerei stammen noch erhaltene Glocken in Westfalen und vor allem im Rheinland, wo sie nach dem Krieg durch glückliche Umstände eine neue Heimat fanden (Vilich bei Bonn, Dormagen, Leverkusen, Düren u.a.). So verzeichnet das Register der Glockengießer, die für das Erzbistum Köln tätig waren, unter den - wohl nicht ursprünglich für eine dortige Kirche hergestellten - „Leihglocken“ neben drei weiteren Namen von Glockengießern aus Königsberg gleich mehrere Mitglieder der Familie Dormann: David Michael, Johann Jakob, Michael und „Dormann M.B.“

1765 floss das Erz in die Form

Eben jener Name prangt als „M.B. Dornmann“ auf der für die Firma offensichtlich typisch schlanken Glocke, die nach ihrer Inschrift 1765 gegossen wurde und damit sicher datiert werden kann. Es waren bewegte Zeiten: Die USA waren damals noch nicht gegründet, dem gerade gestorbenen deutschen Kaiser Franz Stephan I. von Habsburg-Lothringen folgte Joseph II. als Mitregent von Maria Thersia und Johann Wolfgang Goethe begann damals erst sein Studium, als in Königsberg das glühende Erz in die Glockenform rann. Damit wurde auch der Name des Gießers verewigt, der den kochenden Fluss des Metalls damals beobachtete: „ME FECEIT . M. B . DORNMANINN . KOENIGSBERG . 1765“ - so ist in nicht ganz stimmigem Latein neben einer aus einer Wolke zeigenden Hand auf der Glocke zu lesen. Falls sie für eine der ehemals 35 Kirchen in Königsberg bestimmt war – welche wird es wohl gewesen sein? Die 1256 errichtete Steindammer Kirche St. Nikolai, für die Glockengießer Dornmann nachweislich arbeitete? War es die Juditter Kirche von 1255, die Propsteikirche, die barocke Altroßgätter Kirche oder die im Rokoko errichtete Französisch-reformierte Kirche? Oder war es eine Kirche in der weiteren Region um die Stadt?

Spuren der Geschichte

Inzwischen haben die fast 260 Jahre, in denen die Glocke Wind und Wetter ausgesetzt und auf Reisen war, deutlich ihre Spuren hinterlassen: Die Bronzeoberfläche ist porös und oberste Schichten sind abgeplatzt, die reich angebrachten Rokoko-Verzierungen sind nicht mehr gut erhalten und die feinen Grate des aufgelegten aufwändigen Schmucks sind abgeschliffen. Neben diesen wie Spitzenklöppelei wirkenden, im Spätbarock oft verwendeten Ranken- und Gittermotiven sowie einem kaum noch erkennbaren Fries mit geflügelten Engelsköpfen trägt die Glocke nur einen einzigen weiteren Schmuck: Es ist ein quadratisches Kreuz, das an das Tatzenkreuz des Deutschen Ordens erinnert, darunter die Aufschrift „SIT NOMEN DOMINI BENDICTUM“ – „Der Name des Herrn sei gepriesen“. Auch auf diesen Spruch weist eine aus einer Wolke ragenden Hand.

Die große Unbekannte: Glocke Nr. 2

Doch nach dieser ersten dicken Überraschung weist nichts auf die Geschichte einer zweiten, etwas größeren Glocke hin, die neben der Königsberger Bronze-Dame ebenfalls in Borbeck-Mitte gesichert wurde. Sie gab bis zum letzten Jahr im Turm von St. Thomas Morus an der Seite der Dornmann-Glocke den tieferen Ton vor. Auf ihre örtliche Herkunft, die sich erst durch Vergleiche erschließen könnte, deutet zunächst nichts.

Allerdings ist es durchaus möglich, dass dann die Überraschung noch größer ausfallen wird: Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die sehr schlichte und lediglich mit einem Buchstabenband verzierte Glocke sogar noch deutlich älter – darauf deuten Zustand und Erscheinung. Dazu müssten die einfachen, in großem Abstand auf dem Buchstabenband angebrachten und heute schwer lesbaren gotischen Lettern nur noch richtig entziffert werden. Ist diese große Glocke damit nach erster Einschätzung zur Schrifttype vielleicht sogar noch mindestens 200 Jahre älter? Gut möglich ist es. Eine spannende Frage, der wir auf jeden Fall weiter nachgehen werden - auch der, welche Verwendung die Pfarrei St. Dionysius für diese Glocken vorsieht. ...

Christof Beckmann

Bild unten: Die verwitterten Inschriften auf Glocke 2 müssen erst noch entziffert werden, um möglicherweise auf ihre Herkunft schließen zu können.

Literatur:

Beckmann, Christof: Neues Denkmal für St. Thomas Morus in Vogelheim, 19.07.2021
Thorsten Wolf/ Andreas Koerner: Das Verschwinden von St. Thomas in Vogelheim - S. 25-38, in: Borbecker Beiträge, 36. Jg. 1/2020, Januar - Mai, Borbecker Beiträge, Mitgliederbrief des Kultur-Historischen Vereins Borbeck e.V.
Beckmann, Christof: Glocken von St. Maria Immaculata läuten heute in Ungarn. Eine Reise von der Ruhr an die Donau, 02.04.2021
Empfehlungen zur Inventarisation von Glocken, Arbeitsgrundsätze zur Weiterführung des Deutschen Glockenatlas, Beratungsausschuss für das deutsche Glockenwesen 2008
Hoffs Gerhard: Glocken im Stadtdekanat Essen, Mit umfangreicher Unterstützung bearbeitet von Gerhard Hoffs. Gewidmet all denen, die nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau der Geläuteanlagen im Stadtdekanat Essen mitgewirkt haben. o.J.
Register der Glockengießer, die für das Erzbistum Köln tätig waren, o.J.: https://docplayer.org/111421747-Register-der-glockengiesser-die-fuer-das-erzbistum-koeln-taetig-waren.html

Bild oben: Detail vom Hauptmotiv auf der von 1765 stammenden Glocke aus Königsberg. Unten: Die noch rätselhaftere Glocke Nr. 2 - wo stammt sie her? Wie alt ist sie?

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