21. April 2007: Letzter öffentlicher Auftritt von Ernst Schmidt

Eine Erinnerung zu seinem 100. Geburtstag

0 10.10.2024

BORBECK. „Bunte Vielfalt beherrschte Essen-Borbeck. Aktion gegen den NPD-Aufmarsch am 21.4. 2007 politischer Erfolg“ - mit dieser auch farblich deutlich markierten Überschrift wandten sich die Initiatoren des Runden Tisches für Menschenrechte, gegen Rassismus und Rechtsradikalismus in einem schriftlichen Rückblick an die Öffentlichkeit.

Zum Hintergrund: Im Jahr 2007 hatte die rechtsradikale NPD zu einem für das Ruhrgebiet zentralen Aufmarsch in Borbeck aufgerufen. Diesem Aufruf wollte sich ein gesellschaftliches Bündnis sehr unterschiedlicher Stimmen entgegenstellen und bereitete eine eigene Kundgebung vor. Ein Archivdokument belegt die Vielfalt und Breite dieser demokratischen Stimmen. In dem Dokument heißt es:

„Nach dem Mitschnitt der kompletten Kundgebung entstand ein Wort-für-Wort-Protokoll - ohne sprachliche Anpassungen. Kopien der Aufnahme sind beim Anti-Rassismus-Telefon zu bekommen.

Inhalt:

  1. Eröffnung: Wolfgang Freye (Runder Tisch für Menschenrechte)
  2. Moderator: Stefan Pfeiffer
  3. Rede: Dr. Wolfgang Reiniger (Oberbürgermeister)
  4. Rede: Dr. Ernst Schmidt (Borbecker Stadthistoriker)
  5. Rede: Dieter Seifert (stellv. DGB-Kreisvorsitzender, ver.di)
  6. Rede: Helmut Kehlbreier (Bezirksvorsteher Bezirk IV)
  7. Rede: Pfr. Peter Richter (Dechant der katholischen Kirche im Dekanat Borbeck)
  8. Rede: Pfr*.Brigitte Schneller (ev. Kirche E-Borbeck/Vogelheim)
  9. Rede: Wolfgang Sykorra (Bürger- u. Verkehrsverein Borbeck)
  10. Rede: Alice Czyborra (VVN/BdA)
  11. Rede: Deven Zimmermann (Bezirksschülervertretung Essen)
  12. Rede: Elmas Güngör (DIDF)
  13. Abschluss: Wolfgang Freye

Die Veranstaltung auf dem Alten Markt erwies sich mit mehr als 1.000 Teilnehmern als eine der größten politischen Kundgebungen in Borbeck seit langer Zeit. Einer der auf der Rednerliste aufgeführten Persönlichkeiten war Ernst Schmidt. Obwohl er damals schon 83 Jahre alt war, gelang es ihm, eine dynamische Rede zu halten und dadurch die große Teilnehmermenge in seinen Bann zu ziehen. Im Wortlaut sei diese Rede zusammen mit der kurzen Einführung des Moderators abgedruckt:

Moderator:
Es spricht jetzt ein Mann zu uns, der vor 83 Jahren in Borbeck geboren ist. Ein Mann, der den großen Teil seines bisherigen Lebens dem Kampf gegen Faschismus und Krieg gewidmet hat. Der seit über 25 Jahren in der Alten Synagoge in Essen Tausende von Schülerinnen und Schülern über Faschismus und Krieg aufgeklärt hat. Der mit dafür gesorgt hat, dass in Essen und insbesondere in Borbeck Gedenksteine überall eingearbeitet wurden in denen an die Verbrechen erinnert wird, in denen die Namen der Deportierten und ihr Deportationsdatum genannt werden. Ich begrüße Ernst Schmidt.

(Beifall)

Dr. Ernst Schmidt:

Meine Damen und Herren, Liebe Borbeckerinnen und Borbecker,

Ich bin hier hierher gekommen, um mit Ihnen dagegen zu protestieren, dass Rechtsextremisten und Neo-Nazis hier in Borbeck - in unserem Borbeck - demonstrieren wollen.

(Beifall)

Es sind 69 Jahre her, als im November 1938 die Vorfahren jener Rechtsradikalen und Neo-Nazis mit zwei LKWs in der Nacht vom 9. zum 10. November auf diesen Platz fuhren. Und die um diesen Platz herum liegenden jüdischen Geschäfte in eine Art demolierten, die man nur „Mörder“ bezeichnen kann. Dort, in dem Haus hinter uns, neben dem China-Restaurant, wohnte Berta Stern. Eine alte Dame, die dort ein kleines Geschäftchen betrieb. Sie flüchtete, als man unten begann, ihren Laden zu zertrümmern, in die obere Etage. Dann kamen SA-Stiefel die Treppe herauf, rissen die Tür auf, und einer sagte: „Da ist die Judensau! - Komm runter, wir setzen dich jetzt auf die Trophäen, die wir unten für dich bereitet haben!“. Sie lebte noch kurze Zeit hier in Essen. 1942 wurde sie in den Tod deportiert.

Hier an der Ecke des Marktes wohnte Elli Löwenstein, die Tochter von Jakob Löwenstein, der einmal das bekannte Textilhaus Löwenstein, dort wo heute das China-Restaurant ist, besaß. Sie hat oben aus dem Dachfenster zitternd erlebt, was hier unten geschah. Und diese Frau ist ebenfalls in den Tod deportiert worden.

Heute gibt es in Borbeck über 40 Stolpersteine. Die ersten durfte ich mit hier in Borbeck organisieren. Meine Arbeit hat hinterher der Historische Verein und mit ihm Andreas Koerner übernommen. Diese Steine finden Sie rund um diesen Borbecker Markt! Sie finden auch diese Steine am Neuen Markt! Mögen die Herrschaften, die dort gleich versuchen zusammenzukommen, sich diese Steine ansehen! Wir sind in der Lage, jede Geschichte davon zu erzählen!

(Beifall)

Ich möchte - gestatten Sie mir zum Abschluss, dass ich sage: Lass uns gemeinsam mit diesem Spuk von rechts aufhören! Lasst uns gemeinsam unsere Demokratie verteidigen! Und das Grundgesetz unserer Demokratie! In diesem Sinne: Nein, Neo-Nazis in Borbeck!

(Beifall)

Moderator:
Vielen Dank Ernst Schmidt für diese Worte, die so anschaulich gemacht haben, was Faschismus anrichten kann.“

Diese Rede war der letzte Auftritt von Ernst Schmidt in einer großen Kundgebung, bevor er eineinhalb Jahre später starb.

Wolfgang Sykorra

s. 09.10.2024: „100. Geburtstag von Ernst Schmidt. Das Medienzentrum Ruhr e.V. erinnert an sein Wirken“, https://www.borbeck.de/nachrichten-details/100-geburtstag-von-ernst-schmidt.html.

Aufnahmen von 2007: „Borbeck stellt sich quer“ war das Motto, der Alte Markt in Borbeck war voll. Das Bild oben zeigt die Ansprache von Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Reiniger (CDU), hinter ihm mit heller Jacke Dr. Ernst Schmidt. Nach der Kundgebung zogen die Gegendemonstranten zum Neuen Markt, wo sich die NPD versammelt hatte.
Wörtlich berichteten die „Jungen Nationalen“ (JN-Bocholt) anschließend: „Am Samstag den 21.04.2007 beteiligten sich Junge Nationaldemokraten aus Bocholt, Köln, Essen und Aachen an der NPD/JN Kundgebung um wieder einmal ihre Solidarität zur NPD in NRW kund zu geben und an einer zusammenwachsenden NPD/JN Gemeinschaft zu arbeiten. Thema der Kundgebung war „Arbeit für Millionen statt Profite für Millionäre - Nationaler Sozialismus jetzt !“ und sprach die Fehlpolitik der etablierten Parteien an. Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Linkspartei, grüne Jugend und SPD beteiligten sich an der Gegendemonstration zur NPD Kundgebung. Gerade Gewerkschaften hätten die Thematik begrüßen müssen und zeigen doch wieder einmal ihr wahres Gesicht. Von der Interessenvertretung des kleinen Mannes ist keine Spur zu sehen. Auch Kirchengemeinden haben sich sehr daran engagiert ein „Zeichen gegen Rechts“ zu setzen. Wir sollten die Kirche wieder daran erinnern, dass Religion überhaupt nichts bei der Politik zu suchen hat und politische Demonstrationen kein Handlungsfeld im Namen der Kirche sein darf.
Die Republikaner sprachen sich ebenfalls für eine Gegendemonstration aus. Das Trillerpfeifen und die pöbelnden Parolen der ca. 500 selbsternannten Gutmenschen und der Rotfaschisten konnten Aufgrund einer weiträumigen Absperrung nicht als Störung angesehen werden. Sie konnten das lauschen von interessierten Bürgern nicht stören. Die Kundgebung konnte als voller Erfolg angesehen werden und mehrere (zuvor stutzige) Bürger stimmten der Partei zu. Neben Freien und NPD Mitgliedern kam auch ein Mitglied der JN Essen und die stellv. Landesvorsitzende der RNF zu Wort. …“.

Fotos: Archiv CB

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Was ist die Summe aus 1 und 9?