2022/2023: Borbeck feiert Jubiläum als Wiege des Umweltschutzes

0 27.05.2023

BORBECK. Auch in unserer Gesellschaft ist es Brauch, anlässlich runder Jahrestage an früher gefeierte oder beklagte Ereignisse zu erinnern. Als vor fast drei Jahren der 100. Geburtstag des Ruhrgebiets in einer Ausstellung des Ruhr-Museums begangen wurde, fanden darin zwei Ereignisse eine Würdigung, die in Borbeck ihren überregionalen Lauf begannen: die Gründung der Interessengemeinschaft gegen Luftverschmutzung im Jahr 1962 und der Aktionsgemeinschaft A 31 (davor 113) im Jahr 1973.

Interessengemeinschaft gegen Luftverschmutzung: Von lokalen Erfahrungen zu politischen Forderungen

Es war das wachsende Umweltbewusstsein, das vor mehr als 60 Jahren zur Gründung der Dellwiger Interessengemeinschaft führte. Sie gilt als erste Bürgerinitiative Deutschlands und operierte bundesweit. Der Dellwiger Arzt Clemens Schmeck wurde ihr Vorsitzender, sein Kollege Rolf Roskothen aus Frintrop Pressereferent.

Die beiden Ärzte scheuten sich nicht, Missstände vor Ort beim Namen zu nennen, so in den 1960er-Jahren auch in Borbeck. Auf diese Weise gelang es ihnen, die Bedeutung von sauberer Luft für den Menschen zu veranschaulichen. Beispielhaft sei ihr Einsatz gegen die Emissionen der seinerzeit auf dem heutigen Econova-Areal angesiedelten Krupp-Rennanlage Rhein-Ruhr beschrieben.

Das Krupp-Rennverfahren war ein im Drehrohrofen durchgeführtes Eisenreduktionsverfahren, bei dem das Eisen in Form von kompakten kohlenstoffarmen so genannten Luppen gewonnen wurde. Es diente der Verarbeitung saurer und eisenarmer Erze, die im Hochofen nicht verhüttet werden konnten. Es handelte sich um eine Erfindung, die 1935 an der Bottroper Straße ihren Regelbetrieb aufnahm, 1959 nach dem Krieg wieder in Betrieb genommen wurde und damit Industriegeschichte schrieb.

Leider war in den 1950er-Jahren die Technik noch nicht so weit, wirksame Filter zur Reduzierung der ausgestoßenen Schadstoffe zur Verfügung zu stellen. Deshalb litt die Anwohnerschaft unter den Emissionen zunehmend. Nicht zuletzt der Druck der öffentlichen Meinung half den Umweltschützern, die technologische Entwicklung effektiver Filter voranzutreiben und die Gesellschafter der Rennanlage zum Einbau dieser neuen modernen Filter zu bewegen. So konnten die Emissionen erheblich gesenkt werden, was die Menschen der Umgebung konkret spürten und als angenehm erlebten.

Das Engagement der Interessengemeinschaft ging weit über den lokalen Bereich hinaus. Bundes- und landesweit klärte sie in Schulen über die Gefahren der Luftbelastungen auf und suchte Gespräche mit Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Industrie. Darüber hinaus entwickelte sie Initiativen zur Aufnahme des Umweltschutzes in Gesetzesvorhaben, so dass allmählich die Belange des Umweltschutzes als integrative und verpflichtende Auflagen in Gesetzen verankert wurden. Begleitet wurden ihre Aktivitäten von einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit.

Dieser Einsatz vollzog sich anfangs überwiegend außerparlamentarisch und außerhalb von Behörden, deren Unterstützung sie erst noch gewinnen musste. Über eine Vernetzung der Interessengemeinschaft mit überregionalen im Aufbau befindlichen Initiativen wird in der Forschung nicht berichtet. Nachdem sich in Deutschland der Umweltschutz in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung etabliert hatte, wurde die Interessengemeinschaft im Jahr 1992 aufgelöst.

Für ihre Pionierarbeit wurden Clemens Schmeck und Rolf Roskothen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Aktionsgemeinschaft A 31: Vernetzung von Fachleuten und Bürgern als Quelle umsetzbarer Innovation

Umweltschutz ist keine Nachkriegserfindung. Schon die Borbecker Stadtväter erwiesen sich in diesem Sinn als weitsichtig und um eine intakte Landschaft der Heimat bemüht: In den Verhandlungen der damals noch selbstständigen Gemeinde Borbeck um eine Eingemeindung nach Essen setzten sie in dem 1914 geschlossenen Eingemeindungsvertrag durch, dass die „Talmulden“ von Bebauungen freizuhalten seien.

Mit diesem Begriff sind nichts anderes als die Siepentäler gemeint, die sich im Grenzraum Oberhausen/Mülheim/Essen durch das Ruhrgebiet von Norden nach Süden hinziehen. Entsprechend stießen die in den 1960er-Jahren entwickelten Pläne für eine Autobahn von Emden nach Bonn auf Widerstand. Denn die geplante Fernstraße A 31 sollte ausgerechnet durch diese schützenswerte Landschaft mit Hexbach- und Winkhausertal führen.

Im Jahr 1973 bot die Volkshochschule Mülheim einen Arbeitskreis „Mensch und Umwelt“ an, aus dem sich Umweltschützer diesseits und jenseits der Stadtgrenze zwischen Dümpten und Borbeck rekrutierten und für die Erhaltung der Siepentäler eintraten.

Dabei profitierten sie von den Zielen, die andere Gruppen entlang der Trasse zwischen Emden und Bonn ebenfalls verfolgten und schlossen sich mit ihnen zur Aktionsgemeinschaft A 31 zusammen. Darüber hinaus traten inzwischen auch Vertreter von Behörden und politischen Parteien öffentlich für die Belange des Umweltschutzes und damit auch für einen Schutz vor den schädlichen Folgen der Autobahnplanung ein: Es entstanden ein weit verzweigtes Netzwerk von Bürgern und Fachleuten und damit eine Quelle umsetzbarer Innovationen auf dem Gebiet des Umweltschutzes.

Im Bedingrader historischen „Stammhaus“ etwa traf man sich nicht nur zu Speis und Trank, sondern tauschte sich auch aus zu den Erfahrungen, die man bei der Verfolgung der jeweiligen Ziele gemacht hatte.

Borbeck wurde Zentrum der Initiativen von Interessengemeinschaft und Aktionsgemeinschaft.

In Borbeck redete man zuerst vom Ostfriesenspieß

Mehr noch: In Borbeck entstand unter Anspielung auf das ostfriesische Emden der volkstümliche Begriff Ostfriesenspieß für die Autobahn.

Die Wikipedia-Seite „Bundesautobahn 31“ nennt die Vorgeschichte: Bei einer Protestveranstaltung im Hexbachtal wurde ein Flugblatt ausgelegt, das den geplanten Verlauf der Autobahn aufzeichnete und dabei die Naherholungsgebiete so darstellte, als würden sie wie Fleischstückchen aufgespießt. Als literarischen Erstbeleg für den Begriff „Ostfriesenspieß“ nannte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) in einem Bericht die Borbecker Nachrichten, die seinerzeit über die Veranstaltung berichtet hatten.

Der Einsatz der Aktionsgemeinschaft wurde mit einem Erfolg belohnt. Der südliche Abschnitt des Ostfriesenspießes wurde nicht gebaut, so dass sich die Aktionsgemeinschaft 1982 auflösen konnte.

Die überregional tätigen Borbecker Akteure der Aktionsgemeinschaft waren Horst Pomp, ehemaliger Chefarzt des Bethesda-Krankenhauses, und Wolfgang Sykorra, früherer Direktor des Gymnasiums Borbeck. Ersterer wurde mit dem Bundesverdienstkreuz, Letzterer mit einem Umweltpreis ausgezeichnet.

Vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklung darf man mit Fug und Recht behaupten, dass Borbeck eine der Wiegen des Umweltschutzes war.

Wolfgang Sykorra

Zu den Bildern:

Oben: Dr. Clemens Schmeck (stehend) spricht bei einer Versammlung der IG gegen Luftverschmutzung

Portrait: Dr. Rolf Roskothen

Kleines Bild: Gedenkstein für das Engagement gegen die Zerstörung des Hexbachtals.

Quellen:

Theodor Grütter, Frank Kerner, 100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole, Essen 2020, S.142 – 149

Friedrich Johannsen, Das Krupp-Rennverfahren, in: Stahl und Eisen. Zeitschrift für das deutsche Eisenhüttenwesen, 54. Jahrgang, Heft 38 (1934), S. 974, 976

Wolfgang Sykorra, Von den ´Talmulden` zum Regionalen Grünzug B, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, Bd. 128 (2015), S. 61 – 296

Wikipedia-Seiten über „Clemens Schmeck“ und „Bundesautobahn 31“, beide abgerufen am 22.5.2023





Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 1 plus 9.