1944: Die Bombennacht von Borbeck

Vor den kommenden Novembertagen ein Blick in alte Quellen

0 23.10.2020

BORBECK. „25.10.: Der Pastor wird 60 Jahre alt. Nachmittags großer Fliegerangriff auf Borbeck. Der Pastor steht bereit, die Kinder im Krankenhaus zu taufen. Da setzt Alarm ein: Schwer ziehen die Flieger über Borbeck weg. (...) hageln die Bomben.“ Nüchtern notierte Pfarrer Johannes Brokamp die Ereignisse des Jahres 1944 in der Pfarrchronik von St. Dionysius. Am Festtag von Crispinus und Crispinianus, deren Statuen einst die Vorgängerkirche schmückten, wird die 1860 gebaute Kirche bei den schweren Luftangriffen der Royal Airforce durch zwei Luftminen fast vollständig in Schutt und Asche gelegt.

„Die Kirche wird von 2 Bomben getroffen, eine vor dem Marienaltar, die andere vor dem Josefsaltar“, schreibt Brokamp in das Kriegstagebuch der Gemeinde. „Gewölbe und Dachstuhl stürzen ein und begraben alles unter den Trümmern. Das Allerheiligste wird nachher vom Pastor unter Beihilfe der (...) aus dem Tabernakel geholt und zunächst im Keller des Pfarrhauses, dann im Bunker des Krankenhauses sichergestellt. Die Kirche ist zerstört, der Turm steht noch, ebenso die Chorwand. In den Seitenwänden klaffen Löcher, der Grund der Verwüstung, Paramente (...) wenn auch beschädigt, aus dem Schutt der Sakristei gerettet.“

Blick auf St. Dionysius: Bombenschäden vor dem Bahnhof, die Kirche steht noch - kurz darauf brennt auch sie ... (Foto: privat)

Nachtangriffe und Zerstörungen

Schon zwei Tage zuvor, am 23. Oktober 1944, hatte es einen Nachtangriff auf Borbeck gegeben. „Viele Brandbomben, die Scheune am Pfarrheim brennt aus“, heißt es in der Chronik zu diesem Tag: „Eine Reihe Toter, vor allem Ecke Borbecker u. Fürstäbtissinstraße. Kirche hat erneut Schäden. Brand im Pfarrhaus kann gelöscht werden. Auf den Kirchplatz ist ein Blindgänger niedergegangen...“. Dem Angriff am 25. Oktober aber ist jetzt nicht nur die Kirche zum Opfer gefallen: „Im Krankenhaus gehen ebenfalls 2 Bomben nieder (...) sämtliche Türen und Fenster sind herausgerissen (...) Die Handarbeitsschule u. der Kindergarten ist durch eine Bombe bis auf den Keller zerstört. In der Kapelle ist der Tabernakel umgestürzt (...) der Pastor tauft am Abend im Luftschutzbunker 12 Kinder. Marienheim ist zerbombt. Die Oberin hat das Allerheiligste gerettet u. in den Keller des Exerzitienhauses gebracht. Das Exerzitienhaus hat den (...) -flügel verloren, die Kapelle ist zerstört. Die Häuser Hülsmannstraße 14 u. 16 sind baufällig und müssen geräumt werden. In der Umgebung der Kirche und des Krankenhauses sind 20 schwere Bombentrichter. In der Gemeinde viele Häuser zerstört. 41 Tote, vor allem in dem Bunker hinter dem Gymnasium und auf Zeche Neukölln. (...) Der Gottesdienst ist vorläufig im Luftschutzbunker des Krankenhauses.“

Fotoaufnahmen waren während des Krieges überall streng verboten – seine Auswirkungen sollten nicht dokumentiert werden. Gleichwohl entstand – entweder schon im Herbst 1944 bzw. im Frühjahr oder Herbst 1945 - eine Aufnahme der Dionysiuskirche. Sie wurde vor 75 Jahren bei dem schweren Angriff der Royal Airforce am 25. Oktober 1944, durch zwei Luftminen getroffen - lediglich der Turm und die Mariengrotte blieben damals fast unzerstört.

Im November folgen weitere Eintragungen, in denen der spätere Essener Stadtdechant, Ehrendomherr und Domkapitular in Köln vor allem die Kriegszerstörungen und die Beeinträchtigungen des religiösen Lebens beschreibt. „Neuer Nachtangriff auf Borbeck“, heißt es etwa zum 28. November 1944: „3 Tote in der Neuweselstraße (...) Es geht dem Ende zu, wenn auch Göbbels den totalen Krieg verkündet u. das letzte aus dem deutschen Volk herausholt.“


Blick ins Innere der zerstörten Dionysiuskirche

Nur noch eine Frage der Zeit

Bis zum bitteren Ende notiert der Borbecker Pfarrer die Kriegsereignisse zu Hause, aber auch auf dem Kontinent. Im Spätsommer 1944 musste spätestens jetzt längst jedem klar sein: Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass der von den Nationalsozialisten mit Lügen aus allen „Volksempfängern“ angepeitschte Krieg trotz aller Durchhalteparolen und geschönten Wehrmachtsberichte wieder seinen Ausgangspunkt erreichen würde. Die alliierten Streitkräfte waren bereits am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet und kämpften sich durch Frankreich. Währenddessen richteten sich die gemeinsamen Bomberoffensiven von Großbritannien und den USA nun mit verstärkter Wucht vor allem gegen die Zentren der Rüstungsproduktion – nicht zuletzt an der Ruhr. Überall bestimmten Sirenen, Luftalarm und volle Luftschutzkeller den Alltag, Tausende Tonnen Bombenlast brachten Tod und Zerstörung.

Oktober 1944: Operation Hurricane

Das Royal Air Force Bomber Command legte mit 1.800 Flugzeugen am 14./15. Oktober das Stadtgebiet von Duisburg in Schutt und Asche, das 8. United States Bomber Command nahm ab Oktober und November 1944 Kokereien, Treibstoffwerke und Hydrierwerke in Gelsenkirchen, Bottrop und Oberhausen ins Visier. Aachen hatte als erste deutsche Stadt bereits längst kapituliert, doch im Ruhrgebiet sollte das Elend noch fast sieben Monate länger andauern. In Essen kamen unter den Bomben in der Nacht vom 23. zum 24. Oktober sowie am Folgetag mindestens 1.163 Menschen ums Leben, etwa 1.800 britische Flugzeuge warfen 8.500 Tonnen Bomben über der Stadt ab. Bochum folgte nur eine Woche später, bis Dezember 1944 versanken Hagen, Soest, Siegen, Witten und wiederum Essen im Bombenhagel.

Erst im März 1945 überschritten Amerikaner, Kanadier und Briten auf breiter Front den Rhein. Die über 300.000 deutschen Soldaten im Ruhrkessel hatten ihnen schon lange nichts mehr entgegenzusetzen. An den Litfaßsäulen Essens waren überall noch NS-Durchhalteparolen plakatiert worden, Kinder und Alte wurden zum Volkssturm gezwungen, Deserteure erhängt, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter erschossen. Jetzt irrten überall Flüchtlinge und Ausgebombte durch die Straßenschluchten. Von allen Ruhrgebietsstädten traf es Essen besonders schwer: Den insgesamt 272 Luftangriffen auf die Stadt waren hier in all den Jahren etwa 7.500 Menschen zum Opfer gefallen, mehr als 32.000 Sprengbomben fielen, über 1.400.000 Brandbomben und 4.600 Minen. 51 Prozent des gesamten Baubestandes wurden zerstört, 50.000 Häuser schwer bis mittelschwer, nur 6.300 waren unversehrt.

„In gegenseitiger Achtung das gemeinsame Wohl fördern“

Erst mit der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 war die brutale Allmacht der Nazi-Diktatur gebrochen. An dem von ihr entfesselten Krieg waren insgesamt über 60 Staaten beteiligt, er kostete über 60 Millionen Menschen das Leben. Daran wird in den nächsten Wochen vielfach wieder erinnert werden: An die grausamen Verbrechen, an die Ermordung von mehr als sechs Millionen europäischen Juden, an den Mord an Menschen mit Behinderung und politisch Andersdenkenden. 14 Millionen Deutsche suchten nach dem Krieg eine neue Heimat, 17 Millionen blieben verschollen, große Teile Europas waren zerstört.

„Schwere Tage liegen hinter uns; der Krieg ist ober unsere in den letzten Jahren so schwer geprüfte Heimatstadt hinweggerast“, schrieben die katholischen Essener Geistlichen in einem gemeinsamen Hirtenwort am 29. April 1945, das in allen Gemeinden als „priesterliches Wort in ernster Stunde" verlesen wurde. Gefragt sei jetzt ein neuer Geist „im ganzen öffentlichen Leben, das von christlichen Grundsätzen getragen sein muß, in der Beziehung der Völker zueinander, die in gegenseitiger Achtung das gemeinsame Wohl fördern und so den wahren Völkerfrieden begründen.“

Christof Beckmann

Fronleichnam vor der zerstörten Dionysius-Kirche: Es zeigt den Aufzug zum Abschluss-Segen der Großen Borbecker Prozession – wahrscheinlich im Juni 1946. Vor den Trümmern der Kirche ist für den Hochaltar ein riesiges weißes Kreuz aufgerichtet, davor trägt eine Blumenwand das PX-Zeichen für „Jesus Christus“, am Turm und aufgestellten Masten hängen große Kreuzfahnen, die Ehrengarde ist aufgezogen und der Platz zwischen den zerstörten Häusern ist voller Menschen.

Quellen:
06.10.2019: Zeitreise: Schuh-Geschichte(n) aus Borbeck. Aus langer Handwerkstradition
10.11.2019: Vor 75 Jahren - Borbeck in Trümmern. Der Krieg geht zu Ende

12.11.2019: 17. November: Zum Volkstrauertag 2019. Quellen zum Krieg aus dem Pfarrarchiv St. Dionysius
24.01.2020: 1945: Das Kriegsende in Borbeck. Notizen aus der Pfarrchronik von St. Dionysius
Segerath, Wilhelm, Pfarrer an St. Josef, Frintrop
Brokamp, Johannes. Pfarrer, Stadtdechant, Ehrendomherr, Domkapitular
Christof Beckmann, „12. April: Die Amerikaner rücken in Borbeck ein; alles atmet auf...“- Ein Blick in die Pfarrchronik von St. Dionysius (1939-1945)“, Borbecker Beiträge 1/1995,6-11.

Unten: Der Borbecker Marktplatz mit der Dionysiuskirche vor dem Krieg. Eine Aufnahme von 1939, aus dem Jahr, in dem der Krieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann.

Unten: Postkarten der zerstörten Kirche, die im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg entstanden. In den Trümmern spielten nach dem Krieg die "Kirchplatz-Piraten", wie sie vom Pfarrer genannt wurden. Die Kinder vertrieben Diebe, die auf der Suche nach Buntmetall und Brauchbarem auch die Trümmer der Kirche durchsuchten. Der prächtige Hochaltar, die Fenster und die Innenausstattung waren vollständig zerstört. Die 1860/61 gebauten gotischen Gewölbe wichen einer Faltdecke, damit die Messen schnell wieder gehalten werden konnten. Die zum 50-jährigen Bestehen des Katholischen St.Marien-Knappenvereins 1911 gebaute Mariengrotte war unversehrt geblieben.

Bild unten: Auch die Evangelische Matthäuskirche hat es schwer getroffen. Sie kann erst 1954 wieder ein neues Richtfest feiern (Foto: privat)

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