165 Jahre: Ein fast vergessenes Jubiläum

Pfarrbücherei St. Dionysius Borbeck ist heute am Germaniaplatz

0 02.11.2020

BORBECK. 175 Jahre wird der „Borromäusverein“ bundesweit - und trotzdem muss es in diesem Jahr ohne große Feiern abgehen. Auch in Borbeck: Dort ist die älteste Vereinsgründung in der Pfarrei St. Dionysius noch heute in der katholische Büchereiarbeit aktiv. Sie entwickelte sich in den ersten 70 Jahren ihres Bestehens zur einst größten Bücherei in der ganzen Stadt Essen und könnte 2020 immerhin ihr 165-jähriges Jubiläum begehen. Vor dem traditionellen „Borromäus-Sonntag“, der noch heute in jedem Jahr rund um den Gedenktag des Kirchenlehrers Carl Borromäus (4. November) begangen wird, ein Blick in die Chronik:

Gründung 1855 in der Bürgermeisterei Borbeck

Seit 1855 sind die Mitgliedsbeiträge des Borbecker Vereins in der Statistik der Bonner Zentrale des Borromäusvereins angegeben, ab 1898 auch die Mitgliederzahlen des Vereins, der sich aus Kirchenmitteln und Mitgliederbeiträgen finanzierte. Doch er bekam auch öffentliche Zuschüsse durch den Gemeinderat und war damit den Kritikern der Verhältnisse in „der schwarzen Hochburg Borbeck“, so ein Artikel in der sozialdemokratischen „Abeiterzeitung“ vom 23.10.1909, ein Dorn im Auge. Dort galt namentlich der Borromäusverein und seine von ihm aufgebaute Bücherei als einer der „bürgerlichen Klimbim-Vereine“. Bürgermeister Baasel verteidigte sich damals vor den Kreisbehörden und erklärte, es gehöre die Unterstützung einer solche Einrichtung „gewiss zu den Aufgaben der Gemeinde“.

Bücherei am Dionysiuskirchplatz

Schon damals schaute der Verein auf eine lange Entwicklung zurück: „Im Verlaufe dieser Woche müssen die Mitglieder und Theilnehmer des Vereins zum hl. Carl Borromäus dem Herrn Caplan das als Vereinsgabe gewählte Buch bezeichnen“, hieß es im Kanzel-Verkündigungsbuch der Kirchengemeinde am 12.3.1865. Ein Hinweis auf den eigentlichen Zweck: Wie der bis heute in Bonn ansässige Zentralverband verschrieb sich auch die Borbecker Initiative der „Verbreitung guter Schriften und der Volksbildung“. Dazu hatte die Pfarrei in der ehemaligen katholischen Schule am Dionysiuskirchplatz – dort, wo heute das Dionysiushaus steht - eine Bibliothek eingerichtet. Sie zählte 1910 über 1.400 Bände, die dort unentgeltlich ausgeliehen werden konnten. Der Katalog wies verschiedene Abteilungen aus: Schöne Literatur (Belletristik), Erdkunde und Reisen, Naturkunde, Geschichte und Lebensbeschreibungen, Jugendschriften, Religiöse Schriften, Soziale Literatur, aber auch Zeitschriften.

Für Mitglieder des Borromäusvereins, die mit ihrem Beitrag vor Ort die Bücherei förderten, gab es darüber hinaus eine sogenannte „Jahresgabe“: Sie konnten sich aus einer Liste Bücher aussuchen, die den Gegenwert des Vereinsbeitrags deutlich überschritten – eine Art früher Buchclub also, der zugleich Ausleihen für alle organisierte. „Jeder Katholik, wenn er dazu in der Lage ist“, habe die Pflicht, diesen „so überaus wichtigen Verein zu unterstützen“, warb das seit 1910 in der Dionysiuspfarrei erscheinende „Borbecker Kirchenblatt“ und appellierte an katholische Wohltäter, größere Stiftungen für diese Aufgabe einzubringen.

Größte Leserschaft in ganz Essen

Besonders in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Arbeit des Vereins einen großen Aufschwung. Er stellte eine „überaus große Leselust bei allen Schichten der Bevölkerung“ fest und verzeichnete fast 10.000 Ausleihen pro Jahr. 1911 wuchs der Buchbestand bereits auf fast 2.000 Bände an und dank vielseitiger Unterstützung konnten über 300 neu angeschafft werden. Vor allem während des Krieges aber wuchs die Zahl der Mitglieder: Von 300 stiegen sie bis 1917 auf 470, im selben Jahr erreichte die Ausleihe 15.624 Bände. Erfolgreiche Aktionen stützten die Entwicklung. So sollten Buchausstellungen vor Weihnachten Eltern die Auswahl der zu schenkenden Bücher erleichtern - ein noch heute probates Mittel, das allerdings in diesem Jahr ausfallen muss.

Um weitere Buchtitel erwerben zu können, wurden Sponsoren angesprochen, dazu kulturelle Veranstaltungen unter der Bezeichnung „Volksbildung“ organisiert: Bald sorgten Konzerte im vollbesetzten katholischen Vereinshaus am heutigen Neuen Markt, literarische Abende und eine religiöse Vortragsreihe eines Benediktiners aus Maria Laach für volle Kassen. Zu Beginn des Jahres 1918 wuchsen die Mitglieder auf 550, im Frühjahr 1919 auf 633, bis zum Jahresende auf 797. Neuerscheinungen wurden im Schaufenster ausgestellt und die Bücherei galt mit über 4.000 Bänden und 21.000 Ausleihen als größte in ganz Essen. Weil bis 1920 die Ausleihen mit über 800 Lesern sogar auf fast 35.500 stiegen, wurden jetzt auch die Ausleihzeiten verlängert: Bis auf Montag und Samstag war die von Ehrenamtlichen geleitete Bibliothek zwei Stunden täglich geöffnet.

Eine neue Bücherei: Die Stadtbibliothek in Borbeck

Doch die jahrzehntelange konkurrenzlose Stellung der Pfarrbücherei endete 1920: Die Gemeinde war bereits 1919 aus der Finanzierung ausgestiegen und mit der Eröffnung einer Filiale der Stadtbücherei in Borbeck konnte der Borromäusverein nicht mehr mithalten. Das neue städtische Angebot führte mit ganztägigen Ausleihzeiten und anders strukturierter Lektüre zu einem großen Mitgliederverlust. Die Ausleihen der Pfarrbücherei sanken innerhalb von einem Jahr von 35.000 um fast ein Drittel, auch die Zahl der jährlichen Neuanschaffungen ging zurück. Obwohl man anfangs mit der Stadtbücherei noch zu konkurrieren suchte, pendelten sie sich schließlich bis 1932 bei ca. 220 neuen Bänden pro Jahr ein. Nach den Zahlen der Bonner Zentrale fielen die Ausleihen bis 1925 auf 20.000, viele der 3.500 Bänden der Bibliothek wurden an das Katholische Krankenhaus Philippusstift übergeben. Auch Lichtbildervorträge konnten eine offensichtlich schwindende Attraktivität der Bücherei nicht verhindern. Der Mitgliederstand des Vereins sank bis 1927 auf 30, die Ausleihen sanken auf knapp über 9.000, die Leserschaft auf 207. Auch die Unterstützung durch die Pfarre für den Borromäusverein ging stark zurück.

Neue Kampagnen für die Pfarrbüchereien

Mit Aufrufen in der kirchennahen Essener Volkszeitung suchte man den Trend aufzuhalten. Zum Borromäussonntag 1928 verglich Pfarrer Kreuser, Bezirkspräses der Essener Borromäusvereine, das Wirken und die ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel der Pfarrbüchereien mit den beiden zentralen Bildungs- und Unterhaltungsbüchereien, der Städtischen und der Kruppschen Bibliothek. Dabei stellte er die erzielten Ausleihen von 1927 gegenüber (Stadt: 346.000; Krupp: 229.000; Borromäusbüchereien: 159.823) und stellte die damals 30 bestehenden katholischen Büchereien der Stadt als dritte Säule des Essener Bildungswesens heraus. Sie erzielten durch ihre dezentrale Arbeit mit geringeren Buchbeständen und kürzeren Ausleihzeiten eine hohe Effektivität, erklärte er, und sie seien dabei alleine von den Mitgliedern und Lesern bei einem verschwindend geringen Zuschuss von kirchlicher Seite getragen.

Eine Kampagne, der zuletzt Erfolg beschieden war – auch in Borbeck: Die Zahl der Leser stieg wieder auf über 300 und bis 1933 auf fast 500. Die Ausleihen nahmen bis 1933 auf knapp 18.000 zu und erreichten im folgenden Jahr mit über 19.000 einen letzten Höhepunkt - er wurde erst wieder 1947 übertroffen. Bis 1933 wuchs die Zahl der Volksbüchereien des Borromäusvereins in Essen insgesamt sogar auf 51, die im gesamten Bezirk ihre Ausleihzahlen auf 285.555 Bände steigerten. Allein die Borbecker Borromäusbücherei brachte es auf über 6 Prozent der Gesamtausleihen auf Stadtebene, verfügte dabei selbst aber nur über 3,6 Prozent des gesamten Buchbestands.

Trotzreaktion nach der „Machtergreifung“ 1933

Nach der „Machtergreifung“ 1933 lässt sich ein sprunghafter Anstieg bei Mitgliedern und Ausleihen verzeichnen: Trotz – oder vielleicht gerade wegen - der einsetzenden Schwierigkeiten bei der Erhaltung der Bücherei verzehnfachte sich die Zahl der zahlenden Mitglieder, ebenso das Beitragsaufkommen. Zugleich konnten in den Jahren 1933-1939 nur noch insgesamt 619 neue Bände erworben werden. In speziellen Listen wiesen die Behörden jetzt jedoch nicht nur auf „verbotene Bücher“ hin, sondern entfernten bald auch ganze Autoladungen von Büchern aus der Bibliothek, „darunter auch viele bedeutende Autoren, die von anspruchsvolleren Lesern viel gefragt wurden“, erinnerte sich die langjährige Mitarbeiterin und Leiterin der Bücherei M. Kranendick in ihrem Rückblick auf die Jahre von 1916-1952. Obwohl „vorsichtig agiert“ und „von der Bonner Zentrale gut beraten“ wurde, blieben nach dem „letzten Besuch“ mit der Schließung und Versiegelung der Schränke nur noch 800 meist ältere Bände zur Ausleihe.

Der Verlust an Lesern, das Verbot der „so beliebten und gut besuchten Veranstaltungen“ zur Mitgliederwerbung und die Reduzierung der Ausleihzeiten - während die Stadtbücherei geöffnet blieb - brachte schließlich 1943 die Schließung der Bücherei wegen der andauernden schweren Bombenangriffe.

CB

Heute ist die Pfarrbücherei St. Dionysius im Kirchenladen am Germaniaplatz. Unten: Logo der "Katholischen öffentlichen Büchereien", die es in fast jeder Kirchengemeinde gibt.

 

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