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1 21.10.2023
BORBECK. Otfried Preußler, Vater der „Kleinen Hexe“, des „Kleinen Gespensts“ und von „Räuber Hotzenplotz“ - gestern vor 100 Jahren erblickte er das Licht der Welt. Und eine seine Lebensspuren führte auch bis Borbeck: Es geht um das Schicksal eines zerbrechlichen kleinen Kunstwerks, einer Weihnachtskrippe, die 2014/15 erstmals öffentlich in der „Alten Cuesterey“ in Borbeck zu sehen war. Vor ihr feierte Otfried Preußler mit Fredy Kleine-Möllhoff aus Borbeck 1944-1949 Weihnachten in russischer Kriegsgefangenschaft. Unsere Lesegeschichte zum Weihnachtsfest 2020 schilderte diese Erinnerung an dunkle Jahre, die Odyssee eines Symbols der Sehnsucht nach der Heimat, nach Frieden und Freiheit.
Die beiden jungen Männer gehörten zu den über 3 Millionen deutschen Kriegsgefangenen der Ostfront, die für den verbrecherischen Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion bezahlen mussten. Sie litten unter katastrophalen Lebensbedingungen, dem harten Klima, Unterernährung, schwerer Arbeit, Seuchen und Entkräftung. Fredy (Friedrich) Kleine-Möllhoff, seit 1944 Kriegsgefangener in einem der 135 Einzellager der Wolgaregion, war in St. Dionysius als Jugendlicher in der Pfarrjugend aktiv gewesen und gehörte zur „Sturmschar“ im Katholischen Jungmännerverband Deutschlands. Sie hatten in ihrer Weise die Verblendung der Zeit kritisiert, Widerstand geleistet, sich selbstbewusst mit der Hitlerjugend geprügelt, den Terror auf den Straßen gesehen und waren ab 1935 endgültig verboten worden.
Jetzt hatten sie das große Sterben und den gehassten Krieg am eigenen Leib erlebt. Doch immerhin - Fredy hatte bisher überlebt. Im Lager 119 in der Festungsstadt Kasan, der heutigen Hauptstadt der Republik Tatarstan, saß er hinter Stacheldraht und traf dort auf einen fast gleichaltrigen jungen Kameraden: Auf Otfried Preußler, einen 21-jährige Leutnant, der aus dem nordböhmischen Reichenberg stammte. Er war nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Abitur wie die meisten Angehörigen seines Jahrgangs von der Schulbank weg 1942 eingezogen worden. Als Kompanieführer in der 294. Infanterie Division der 6. Armee geriet er in die Kesselschlacht von Kischinew in Bessarabien. Und musste nun - wie seine Mitgefangenen - schwere Silikatziegel herstellen.
Wie lange sie nun in Kasan bleiben würden, wussten beide damals noch nicht. Auch nicht, ob sie überhaupt überleben. Aber Weihnachten wollten sie feiern. Draußen klirrte die knackige Kälte des russischen Winters, als in den Gefangenenbaracken dazu ein anrührendes, zerbrechliches Kunstwerk entstand - eine sehr ungewöhnliche Weihnachtskrippe. Otfried Preußler lieferte den Entwurf und die Zeichnung, von Fredy Kleine-Möllhoff wurde sie im eisigen Lager gebaut. Gefertigt aus Dachpappe und Transparentpapier, das von hinten durch eine Kerze erleuchtet wurde, hielt sie während der Kriegsgefangenschaft an der Wolga die Erinnerung an die Bedeutung des Festes wach - in der Hoffnung, bald wieder nach Hause zu kommen und irgendwann endlich die Familie wieder zu sehen.
„Ich vermute, dass es gar nicht so einfach war, damals überhaupt das Material dafür zu finden“, erläuterte der 2015 verstorbene Historiker Dr. Baldur Hermans – er gehörte zum Team für die Jahresausstellung des Kultur-Historischen Vereins Borbeck, bei der dieses kleine Kunstwerk zum ersten Mal gezeigt wurde. „Mit dem Butterbrotpapier packte man wohl in der Kriegsgefangenschaft die Tagesration für die Arbeit ein, auch die Farben für das Ausmalen war nicht leicht heranzukommen.“ So mag es sein, dass auch aus diesem Grund die Bilder in drei Etappen entstanden: In der ersten Kriegsweihnacht im Lager 1944 standen Josef und Maria an der Krippe, im zweiten Jahr der Gefangenschaft kamen auf der linken Seite die Hirten dazu, im dritten Jahr die Weisen aus dem Morgenland, die sich von der rechten Seite dem Christkind nähern. „Und so entstand über die Jahre ein Triptychon“, beschrieb Hermans die kleine durchsichtige Krippenlandschaft. „Für sie war es vielleicht ein Hoffnungszeichen, dass die Gefangenschaft bald dem Ende zugeht.“
Doch die Zeit der Entbehrungen sollte weit länger dauern: Die Hoffnung auf schnelle Rückkehr nach dem offiziellen Kriegsende 1945 zerschlug sich, die Jahre vergingen. Erst 1949, fünf Jahre nach ihrer Gefangennahme, kehrten beide zurück in die Heimat - gezeichnet von der Haft: Als Otfried Preußler, der in verschiedenen russischen Lagern wie Jelabuga überlebt hatte, im Juni 1949 entlassen wurde, lag eine harte Zeit hinter ihm. Er litt unter Typhus, Malaria und Fleckfieber und war bis auf 40 Kilogramm Körpergewicht abgemagert. Jetzt fand er im oberbayerischen Rosenheim seine Angehörigen und seine Verlobte wieder, heiratete und musste mit 26 Jahren wieder ganz neu beginnen. Er wählte den Lehrerberuf, arbeitete als Lokalreporter und begann zu schreiben.
Sein großes Fabuliertalent und seine Erzählkunst hatte er just in den Lagern der Gefangenschaft geübt, wie Preußler später bekannte. Er schrieb Gedichte und Theaterstücke, die er neben der Zwangsarbeit mit Kameraden auf der Lagerbühne aufführte. Seine Talente setzte er jetzt als Schriftsteller ein: 1956 war „Der kleine Wassermann" der erste große Erfolg, 1957 folgte „Die kleine Hexe". Sie waren der Beginn einer ungeheuer produktiven Liste von Veröffentlichungen: Kater Mikesch (1962), Der Räuber Hotzenplotz (1962), Das kleine Gespenst (1966), Die Abenteuer des starken Wanja (1968), Neues vom Räuber Hotzenplotz (1969), Krabat (1971) und viele weitere machen ihn zu einem der größten deutschen Geschichtenerzähler überhaupt. 32 Bücher, für die Preußler zahlreiche deutsche und internationale Auszeichnungen erhielt, wurden in 55 Sprachen übersetzt, die weltweite Gesamtauflage stieg auf rund 50 Millionen Exemplare, zahlreiche Werke wurden verfilmt. Der Autor, der als freier Schriftsteller am Chiemsee lebte, starb am 18. Februar 2013 im Alter von 89 Jahren. Doch die Erfahrungen des Krieges ließen ihn nie los. Über Jahrzehnte unterstützte Otfried Preußler großzügig den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge - im Gedenken an all seine Kameraden, die er im Krieg und in der Gefangenschaft hatte sterben sehen.
Die Krippe aber, die er 1944 im eisigen Kasan entwarf, verschwand in all diesen Jahren nicht. Fredy Kleine-Möllhoff, der sie gebaut hatte, versteckte sie bei seiner Entlassung zwischen zwei dünnen Brettern im Zwischenboden des Rucksacks. Er schmuggelte sie durch alle Lagerkontrollen in Kasan und erreichte mit ihr nach Tausenden Kilometern unbeschadet das Ruhrgebiet. Seitdem wurde sie immer zu Weihnachten als Familienkrippe in Essen aufgebaut – heute eingefügt in ein hölzernes Gehäuse. Eine Erinnerung und ein „Überlebenszeichen“ aus einer schweren Zeit, die Brücke einer Freundschaft, die blieb. Ende der 70er Jahre schrieb der inzwischen berühmt gewordene Schriftsteller Otfried Preußler an Fredy Kleine-Möllhoff in Borbeck:
„Über deinen Brief vom 17. Januar habe ich mich sehr gefreut. „Herzlichen Dank dafür. Und ganz besonders herzlichen Dank für die beiden Fotos von der Essener Weihnachtskrippe. Was für ein Wiedersehen und welche nachträgliche Weihnachtsfreude für mich.“
Als die Krippe für die Ausstellung des Kultur-Historischen Vereins Borbeck 2014 in der Alten Cuesterey bei Elmar Kleine-Möllhoff angefragt wurde, stellte die Familie sie gerne zur Verfügung – auch den Brief von Otfried Preußler. Beides fand beim Publikum am Weidkamp einen außerordentlichen Zuspruch, wie das Ausstellungsteam um Dr. Baldur Hermans damals feststellte: „Die Leute interessieren sich natürlich einmal für das Schicksal der Krippe, dafür, wie sie zustande gekommen ist. Und natürlich ist so etwas auch eine Erinnerung an eine Zeit, die für sie auch zu Hause eine schwere Zeit war.“
In knapp zwei Monaten werden wieder viele Krippen aus den Kellern oder von Dachböden geholt. Viele haben ihr ganz eigenes Schicksal, das eng mit der Familie verbunden ist. „Sie stehen auch als Zeichen der Generationenverbundenheit“, deutete damals Dr. Baldur Hermans ihre Rolle in der Weihnachtszeit. Und sie stehen nicht zuletzt für die Botschaft der biblischen Erzählung von der Geburt Jesu: „Friede auf Erden allen Menschen guten Willens!“ Die Hoffnung bleibt. Und mit ihr die unstillbare Sehnsucht nach einer heilen, versöhnten, solidarischen und friedlichen Welt.
Christof Beckmann
21.12.2020: Die Borbecker Krippe von Otfried Preußler. Vor 80 Jahren entstand die Krippe der Gefangenen von Kasan
Kommentare
Kommentar von Susanne Asche |
Eine wunderbare Geschichte voller Kraft und Lebensmut!
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