Schreiner, Karl, Pfr.

Über das Leben und Wirken des Borbecker Pfarrers Karl Schreiner (1889-1961) ist schon einiges veröffentlicht worden. Insbesondere die Beiträge von Christoph Ecker und Volkmar Wittmütz vermitteln das Bild eines Mannes, der in schwierigen Zeiten von 1926 bis 1958 als Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Borbeck segensreich tätig gewesen ist. Er verkörperte im Unterdrückungssystem der Nationalsozialisten als Mitglied der Bekennenden Kirche und als Mann der Tat im lokalen Raum die auch heute noch gültige Maxime, „dass nicht nur einer für den anderen einzustehen hat, sondern dass der Mund aufgetan werden muss“. Was der damalige Präses Nikolaus Schneider in seiner Laudatio über Pfarrer Heinrich Held und das Pfarrerehepaar Johannes und Käthe Böttcher im Jahre 2006 sagte, gilt ebenso für den Pfarrer Karl Schreiner. Der Nachweis dafür soll in den folgenden Ausführungen geführt werden.

Biografische Daten

Karl Schreiner wurde am 3. Juli 1889 im hessisch-nassauischen Ort Endbach im Landkreis Marburg-Biedenkopf (heute Bad Endbach) als ältester Sohn des Lehrers Johannes Schreiner und seiner Ehefrau Lisette, geborene Baum, geboren. Endbach hatte zu dieser Zeit etwas mehr als 400 Einwohner und war überwiegend evangelisch. Schreiners Ehefrau Elfriede, geborene Biermann, Tochter eines Lehrers aus Schwelm, mit der er eine Tochter und einen Sohn hatte, starb 1935. In zweiter Ehe war er ab 1938 mit Pauline Schröder verheiratet. Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium in Dillenburg studierte Karl Schreiber evangelische Theologie in Marburg und Tübingen und legte 1913 sein erstes theologisches Examen ab. Das zweite Examen bestand er ein Jahr darauf nach Ableistung des Predigerseminars und einer Tätigkeit in der Seemannsmission Bremerhaven. 1915 wurde er ordiniert und am1. Juli 1915 Pfarrer in der Gemeinde Bottenhorn (Ortsteil von Endbach). Hier erlebte er das Ende des Krieges und die Revolutionswirren der Nachkriegsjahre.

Nach mehreren vergeblichen Bewerbungen um eine Pfarrstelle, möglicherweise auf Gund seiner nicht besonders guten Examensnoten, verschlug es ihn elf Jahre später ins Ruhrgebiet. Am 1. August 1926 wurde er Pfarrer der Gemeinde Essen-Borbeck, seinerzeit eine der ärmsten Gemeinden des Kirchenkreises Essen und eine ausgesprochene Diasporagemeinde mit defizitärer Infrastruktur und einem hohen Anteil an Arbeitern. Beim Dienstantritt von Pfarrer Schreiner verfügte die evangelische Kirchengemeinde Borbeck über vier Pfarrstellen und etwa 15.000 Gläubige. Nach der Abtrennung der Filialgemeinde Vogelheim 1928, die ab 1934 unter der Bezeichnung Essen-Bergeborbeck firmierte, gab es vorübergehend nur noch drei Pfarrstellen. Nachdem Pfarrer Johannes Böttcher 1931 zur Gemeinde Essen-Altstadt und Pfarrer Hellmut Klingbeil 1937 nach sieben Jahren an eine Gemeinde in Düsseldorf gewechselt waren, musste Karl Schreiner die gesamte seelsorgerische Arbeit mit Dr. Erich Groß (von 1931 bis 1946 in Borbeck, Bandstraße 19) und dem Missionar Ernst Gräb leisten. Ernst Gräb war 1928 aus Papua/Neuguinea nach Borbeck gekommen und wohnte in der Fürstenstraße bzw. nach der Umbenennung 1934 in der Legrandallee 5. Die vierte Stelle blieb unbesetzt.

Tätigkeit in Essen und Borbeck von 1926 bis 1933

Als Karl Schreiner seine Tätigkeit in Essen-Borbeck begann, stand er großen Herausforderungen gegenüber. Die Nachkriegszeit mit Kapp-Putsch, Ruhrkampf, Ruhrbesetzung und Inflation hatte in der Bevölkerung des Ruhrgebiets und insbesondere im Arbeiterstadtteil Borbeck tiefe Spuren hinterlassen. In einem „Bettelbrief“ aus dem Jahre 1931 aus Anlass des 75jährigen Bestehens der evangelischen Kirchengemeinde Borbeck nannte er die Gemeinde „eine Großstadt-, Berg- und Fabrikarbeitergemeinde inmitten einer erdrückenden katholischen Mehrheit“. Schreiner wörtlich:

„17.000 Evangelische unter 56.000 Katholiken in einem Stadtteil, das darf man wohl auch heute noch Diaspora nennen. Die Gemeindemitglieder, fast ausschließlich Berg- und Fabrikarbeiter, zum allergrößten Teil erwerbslos und der Rest mit reichlichen Feierschichten bedacht, können zum Unterhalt der Gemeinde kaum beitragen, bedürfen dagegen der besonderen Unterstützung und seelsorgerischen Betreuung der Gemeinde. (…).“ [Zitiert nach Gehring, S. 217].

Die zentrale Frage, vor die er sich gestellt sah, lautete: Was kann und muss die evangelische Kirche tun, um die Not der der Menschen zu lindern, und was kann ich dazu beitragen? Pfarrer Schreiner war kein Mann der großen Worte, kein Theoretiker oder Ideologe – Pfarrer Schreiner war ein Mann der Tat. Er lebte ein soziales Tatchristentum. Die Pfarrbezirke der evangelischen Kirchengemeinde hatten damals keine Kirche oder sonstigen geeigneten Versammlungsort. In ihrer Not pachtete die Gemeinde ein Stück Land, teilte es in Parzellen auf und überließ sie bedürftigen Familien. Zusätzlich errichtete man auf dem Gelände eine provisorische Versammlungsstätte, in der Gottesdienste und Bibelstunden stattfinden konnten.

Diese evangelische Initiative wurde im „schwarzen“ Borbeck wohl als störend empfunden, jedenfalls wurde in das Gotteshaus-Provisorium mehrfach eingebrochen. Pfarrer Schreiner und seine Gemeinde ließen sich dadurch nicht abhalten, zusammen mit dem Evangelischen Wohlfahrtdienst weitere Maßnahmen zur Linderung der Not umzusetzen: Kollekten, freiwillige Arbeitsangebote, Wärmestuben, Bildungsangebote. Mit seinem unermüdlichen Einsatz für die Armen und Schwachen stand Pfarrer Schreiner an der Seite von Otto Ohl (1886-1973), der ab 1909 Hilfsprediger in Rüttenscheid, von 1915 bis 1922 Pfarrer in Rotthausen und ab 1925 hauptamtlicher Sozialpfarrer der rheinischen Provinzialkirche war. Ohl vertrat die Auffassung, dass Not und Armut und auch die zunehmende Kirchenferne nicht auf Charakterschwäche und persönliche Defizite zurückzuführen sind, sondern strukturelle Ursachen haben. Anfang der 1920er-Jahre entwickelte Pfarrer Ohl bei den „Rengsdorfer Tagungen“, an denen aus Essen auch die Pfarrer Held und Graeber teilnahmen, ein neues Konzept für evangelische Sozialarbeit. Fortan wurde evangelische Wohlfahrtspflege in Jugend- und Wohlfahrtsämtern organisiert.

Auch in Borbeck gab es seit der Mitte der 1920er-Jahre ein Jugend- und Wohlfahrtsamt, doch die konkrete soziale Arbeit in der Gemeinde leistete ein ehrenamtlicher Ausschuss des Presbyteriums für „freie Liebestätigkeit und Wohlfahrtspflege“ mit Pfarrer Schreiner an der Spitze, unterstützt von den Pfarrern Emil Bredt (Dellwig, Schilfstraße) und Wilhelm Viebahn (Vogelheim, Bottroper Straße) und sechs Laien. 1931 wurde als zentrale Anlaufstelle für evangelische Bedürftige in Essen der „Evangelische Wohlfahrtsdienst für Stadt und Synode“ eingerichtet. Die Führung des synodalen Arbeitsausschusses übernahm Pfarrer Schreiner, assistiert u.a. von den Pfarrern Held und Böttcher. Wie eingeschränkt die Möglichkeiten einer wirkungsvollen Gemeindearbeit zu Beginn der 1930er-Jahre waren, illustriert ein. Bettelbrief von Pfarrer Schreiner aus dem Jahre 1931 zum 75jährigen Bestehen der Gemeinde:

„Dem 2. und 3. Pfarrbezirk, deren Insassen der weiten Entfernung wegen nicht zu den vorhandenen Gottesdienststätten kommen können, fehlt es an dem allerbescheidensten Unterkommen. Bisher fanden wir uns dort in einem Schulsaal zusammen, seit Monaten ist der Raum viel zu klein. Die Gemeinde muss einen Wirtshaussaal mieten. Da halten wir unsere Gottesdienste für 300 bis 400 und mehr Besucher ab und es wären noch mehr, wenn es nicht in einer Wirtschaft wäre. Wir stehen vor der zwingenden Notwendigkeit, hier einen bescheidenen Gottesdienstraum zu errichten.“ [Zitiert nach Gehring, S. 216].

Die evangelische Kirche in Deutschland nach 1933

In der evangelischen Kirche Deutschlands formierten sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zwei Strömungen heraus. Die „Deutschen Christen“ unter Reichsbischof Müller mit zunehmender Anpassungsbereitschaft an das NS-System und die „Bekennende Kirche“ mit Martin Niemöller, die eine Vereinnahmung durch den Staat ablehnten und auf die Eigenständigkeit der Kirche pochten, wobei der Nationalsozialismus nicht in jedem Fall grundsätzlich abgelehnt wurde. In der ersten Phase der innerkirchlichen Auseinandersetzung ging es weniger um den Kampf gegen den Nationalsozialismus, als vielmehr um die Abwehr einer rassistisch-völkischen Überfremdung des Christentums durch die Deutschen Christen. Festzuhalten ist, dass es in der Evangelischen Kirche Deutschlands keine gemeinsame Haltung in der sogenannten Judenfrage und keinen gezielten Widerstand gegen das NS-Regime gegeben hat. Nikolaus Schneider fasste dies als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland so zusammen:

„Das hing auf protestantischer Seite vor allem mit dem deutschnationalen Erbe zusammen sowie mit einem theologischen Denken, nachdem die Kirche Israel angeblich enterbt habe und an seine Stelle getreten sei. Widerstehen gegen Hitler war für die Bekennende Kirche im Wesentlichen motiviert durch die Absicht des Staates und der deutschen Christen, die Kirche ihrer Autonomie zu berauben und mit dem Staat gleichzuschalten. Es ging also um die Wahrnehmung ureigenster Interessen mit dem Ziel der Bewahrung des Status quo.“ [Aus der Laudatio von 2004].

Pfarrer in der evangelischen Kirche Essen im NS-Staat

Die evangelische Kirche in Essen galt als Stützpunkt des Widerstands gegen die Vereinnahmung durch den NS-Staat. Die Gleichschaltung ist hier nicht überall gelungen. Beispielsweise konnte die evangelische Kirchengemeinde Schonnebeck die Einflussnahme der Deutschen Christen erfolgreich abwehren. [vgl. Keus/Vogels]. Wortführer und Protagonisten der Bekennenden Kirche in Essen waren die Pfarrer Gustav Heinemann (Altstadt), Friedrich Graeber (Altstadt), Heinrich Held (Rüttenscheid), Wilhelm Busch (Weigle-Haus) und Johannes Böttcher. Heinrich Held (1897-1957), Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Rüttenscheid ab 1930, gründete mit den Pfarrern Joachim Beckmann und Friedrich Graeber die „Rheinische Pfarrbruderschaft“. Sein Engagement innerhalb der Bekennenden Kirche brachte ihm Verhaftungen, Redeverbote und vorübergehende Suspendierungen an. Er arbeitete eng mit Pfarrer Schreiner zusammen. Später wurde er erster Präses der evangelischen Kirche im Rheinland. In Überruhr gibt es ein Pflegeheim mit seinem Namen.

Der aus einer Pfarrerfamilie stammenden Wilhelm Busch (1897-1966) war von 1929/30 bis 1962 als Jugendpfarrer im Essener Weigle-Haus tätig. Auch er musste wegen seines Einsatzes für die Bekennende Kirche mehrfach ins Gefängnis. Pfarrer Friedrich Wilhelm Graeber (1884-1953) war Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Essen-Altstadt. Er setzte sich ganz besonders für die Armen und Bedürftigen ein. Auf seine Initiative geht die Gründung eines Bauernhofs für in Not befindliche Familien zurück. 1934 verlas er von der Kanzel eine Erklärung, in der er zum Widerstand gegen den Reichsbischof Müller aufrief. Das zog die Suspendierung nach sich. Für Gustav Heinemann, der eine Zeitlang mit ihm in der Kirchengemeinde Altstadt zusammenarbeitete, war Graeber ein begnadeter Prediger.

Pfarrer Johannes Böttcher (1895-1949), Pfarrer in Essen-Altstadt und dann nach der Zerstörung der Kirche im Sommer 1944 Pfarrer in Rüttenscheid, war ein führender Kopf der Bekennenden Kirche in Essen. Er versteckte im Keller der Rüttenscheider Reformationskirche zehn Juden vor dem Zugriff der Nazis und brachte sie nach der Zerstörung der Kirche im Heizungskeller des Pfarrhauses unter. Dafür erhielt Pfarrer Böttcher mit seiner Ehefrau Käthe von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem den Titel „Gerechte unter den Völkern“. Die Laudatio auf Käthe Böttcher und den „treuen Johannes“ hielt am 16. November 2004 in der Alten Synagoge Nikolaus Schneider, damals Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Heinrich Held und Pfarrer Alfred Neuse (von 1945 bis 1977 in Haarzopf) versteckten Dr. Philipp Rappaport in Essen-Haarzopf. Dafür hatte Heinrich Held die Auszeichnung ein Jahr zuvor erhalten. In Überruhr gibt es Johannes-Böttcher-Haus, ein Haus für Menschen mit Behinderung. Pfarrer Karl Dungs (1901-1972), von 1933 bis 1946 Pfarrer in Kupferdreh, offen zum Nationalsozialismus und zu den Deutschen Christen. Für ihn hatten die evangelischen Amtsträger die Pflicht, die evangelische Kirche im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung umzugestalten. Von ihm weiß man, dass er Predigten in SA-Uniform gehalten hat. Er boykottierte Sammlungen der Inneren Mission zugunsten eigener Hauskollekten, strich die Beiträge für den synodalen Missionsverein und führte anstelle der üblichen Gottesdienste sogenannte „Gottesfeiern“ ein. Wie einige andere Pfarrer in Essen praktizierte er offen ein national-völkisches Verständnis von Protestantismus. [vgl. den Aufsatz von Weitenhagen in: Die evangelische Kirche in Essen, S. 51-65].

Pfarrer Schreiner 1933 bis 1945

Die evangelischen Gemeinden und die Pfarrerinnen und Pfarrer standen vor der Aufgabe, sich mit der nationalsozialistische Volkswohlfahrt zu arrangieren. Das galt auch für Pfarrer Schreiner. Wie die meisten evangelischen Pfarrer begrüßte er die neue Regierung und erhoffte von ihr die Wiederherstellung der nationalen Ehre und wirtschaftlichen Aufschwung. Pfarrer Schreiner, der Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war, blieb den neuen Machthabern wegen ihren Rassenideologie und ihrer radikalen Trennung der Gesellschaft in Starke“ und „Schwache“ gegenüber auf Abstand. Auch deren wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen beurteilte er eher skeptisch. [Wittmütz, S.48].

Die Situation, in der sich der Wohlfahrtsdienst Ende 1933 nach einigen Kürzungen, dem Wegfall von Arbeitsfeldern des Essener Wohlfahrtsdienstes und der Überführung der Winternothilfe in das Winterhilfswerk des deutschen Volkes im Oktober 1933 befand, bestätigte ihn in seiner Skepsis. Anders als Otto Ohl, seines Zeichens Geschäftsführer der rheinischen Inneren Mission, der eine eindeutige Stellungnahme im Kirchenkampf vermied, wurde Pfarrer Schreiner wie seine Amtskollegen in der evangelischen Kirchengemeinde Borbeck Hellmut Klingbeil (bis 1937 in Borbeck), Dr. Erich Groß und Ernst Gräb Mitglied der Bekennenden Kirche. In den Leitungsgremien der Gemeinde gab es keinen einzigen Anhänger der Deutschen Christen. Rückblickend auf die Vorgänge im November 1933 notierte Pfarrer Schreiner 1949:

„In einer zunächst stürmischen Versammlung im damaligen Vereinshaus des Evangelischen Männer- und Jünglingsvereins Wüstenhöferstraße 103, zu der uneingeladen von nah und fern die führenden Vertreter der Deutschen Christen plötzlich erschienen, um einen letzten Versuch zur Rettung der deutsch-christlichen Sache in Borbeck zu machen, erfolgte in Gegenwart des Presbyteriums, das mittlerweile neu gewählt worden war, die offizielle Auflösung der Ortsgruppe der Deutschen Christen. Alle anwesenden Nicht-Borbecker Gemeindemitglieder wurden aufgefordert, den Saal zu verlassen. Die Leute versammelten sich dann im naheliegenden Gasthaus Düllmann, während in Saal des Vereinshauses die Bekennende Gemeinde Essen-Borbeck aus der Taufe gehoben wurde.“ [Zitiert nach Gehring S. 224].

Es war Pfarrer Schreiners ständiges Bestreben, die Vereinnahmung von kirchlichen Einrichtungen durch die Nazis zu verhindern und der Gleichschaltung der Jugendverbände entgegenzuwirken. Bezeichnend für seine regimekritische Haltung ist ein Bericht des Borbecker Ortsgruppenleiters an die Kreisleitung der NSDAP vom Januar 1935, in dem es unter anderem hieß, dass Pfarrer Schreiner

„stets und auch heute noch deutschnational eingestellt, steht in Opposition zur Bewegung, tritt für Juden ein, Führer der evangelisch-konfessionellen Vereine, scharfer Anhänger der Bekenntniskirche, hat innerhalb der Kirchengemeinde starken Einfluss.“ [Ecker, S. 392].

Dieser Bericht befindet sich in der Gestapo-Akte des Pfarrers Wilhelm Viebahn (von 1907 bis 1945 Pfarrer in Borbeck), der sich offen zur Bewegung der Deutschen Christen bekannte. 1932 trat er der NSDAP bei.  Er war die treibende Kraft bei der Abtrennung der evangelischen Gemeinde Bergeborbeck von der Kirchengemeinde Borbeck. Das Borbecker Presbyterium antwortete daraufhin im November 1934 mit dem Beschluss, wonach die Kanzeln in den Borbecker Predigtstätten und der Matthäusfriedhof „keinem deutsch-christlichen Pfarrer in Zukunft mehr für Amtshandlungen zur Verfügung stehen.“

Pfarrer Viebahn wiederum drohte damit, Pfarrer Gräb bei der Gestapo anzuzeigen. In den folgenden Jahren begann man in Bergeborbeck mit dem Bau einer neuen Kirche. In der Urkunde zur Grundsteinlegung der der neuen Kirche, ausgestellt am 29. September 1940, hieß es zu Beginn: „Im 8. Jahr nach der Machtübernahme durch unseren Führer und Reichskanzler Adolf Hitler …“. Von Gott ist keine Rede mehr. Die Angestellten der Gemeinde (Küster und Organist) ließ er 1940 vor dem Altar schwören, dem Führer treu und gehorsam zu sein. [vgl. Die drei Leben des Gebäudes].

Pfarrer Schreiner nach 1945

Im Mai 1945 war Pfarrer Schreiner mit Pfarrer Held an der von Dr. Philipp Rappaport, dem nachmaligen Direktor des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk in Essen, initiierten Gründung der „Aktion Gemeindehilfe“ beteiligt. Es ging dabei um die Belebung der Produktion im Ruhrgebiet und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebens- und Aufbaumitteln aus dem ländlichen Raum. Das war ganz im Sinne des Praktikers Pfarrer Schreiner, bei dem die Not der Kinder und Jugendlichen stets an erster Stelle stand. Er setzte bei der Lösung von sozialen Fragen auf praktizierte Nächstenliebe. Er nahm die Not der Menschen als Herausforderung zum Handeln an und verkörperte so den Dienstgedanken kirchlichen Tuns.

Mit dieser Grundüberzeugung und dank einer überbordenden Schaffenskraft war Pfarrer Schreiber der richtige Mann am richtigen Ort. Denn Borbeck war während seiner gesamten Amtszeit eine der ärmsten Gemeinden in Essen. Eine weitere Schwerpunktaufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wiederaufbau der zerstörten Borbecker Infrastruktur. Die Instandsetzung des Bethesda-Krankenhauses 1945, der Wiederaufbau der Matthäuskirche 1953 und Einrichtung des Altenheims Bethesda in Borbeck 1956 waren die Großbaustellen von Pfarrer Schreiner. Die Auswirkungen der zerstörten Matthäuskirche auf die Gemeindearbeit schilderte Pfarrer Schreiner 1949 in seinem Antrag an das Landeskirchenamt für einen Wiederaufbaukredit sehr deutlich: Gottesdienste im Parterre des Pfarrhauses, gesamte Gemeindearbeit (Sitzungen, Unterricht, Bibelstunden, Trauungen) in provisorisch abgetrennten Räumen des Hauses, Einschränkungen bei den Gottesdiensten (Enge, schlechte Luft).

Dem pragmatischen „Sozialarbeiter“ und Organisator Karl Schreiner ging es aber immer auch um konkrete Maßnahmen zur Wiederbelebung der sozialen Arbeit in den Kirchengemeinden. Er unterschied sich in diesem Punkt vom damaligen Essener Superintendenten Held, dem es vorrangig um die moralische Erneuerung und der Wiederaufbau Deutschlands durch die verfasste Kirche und den Staat ging. Schreiner hingegen vertrat die Auffassung, dass die kirchlichen Vereine der Inneren Mission und die „Essener Nothilfe“ mit der Bereitstellung von Notunterkünften, Wärmestuben, Nähstuben) besser dafür geeignet seien. Mit dem Evangelischen Gemeindedienst kümmerte sich Pfarrer Schreiner um die Sorgen und praktischen Lebensfragen der Kinder und Jugendlichen in den Gemeinden. Durch sogenannte „Erziehungssonntage“ wollte er dazu beitragen, Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Um gefährdete Jugendliche von der Straße zu bringen, richtete er 1948 ein „Vorasyl“ in einem ehemaligen Bunker in Borbeck ein.

Die frühe Entnazifizierung durch die Spruchkammer der Britischen Militärbehörde im Februar 1946 verlieh Pfarrer Schreiner zusätzliche Kraft für seine Arbeit im Essener Gemeindedienst. [Wittmütz, S. 47]. Gegen Ende seiner Amtszeit wirkte Pfarrer Schreiner maßgeblich an der Zusammenführung von Innerer Mission und Evangelischem Hilfswerk 1960 zum Diakonischen Werk in den Essener Kirchenkreisen mit. Auch nach seinem Ruhestand 1958 behielt er die Leitung des Gemeindedienstes. Am 18. November 1961 ist Pfarrer Schreiner in Borbeck gestorben. Er wurde auf dem Friedhof der Matthäuskirche beigesetzt. Das Diakoniewerk Essen unterhält heute einige Häuser bzw. Wohneinrichtungen, die seinen Namen tragen, unter anderem in Essen-Bedingrade. Es geht dabei ganz im Sine von Karl Schreiner um Hilfen zur Bewältigung des Alltags, um das Erkennen der eigenen Fähigkeiten und um Hilfestellung in der schulischen und beruflichen Entwicklung. (FJG)

Quellen:

  • Gehring, Heinrich: Die Gemeinden Essen-Borbeck und Essen-Bergeborbeck im Kirchenkampf 1933 bis 1937. In: Zwischen Bekenntnis und Anpassung. Aufsätze zum Kirchenkampf in rheinischen Gemeinden, in Kirche und Gesellschaft (Hrsg. Günther van Norden), Köln 1985, S. 213-233.
  • Die Evangelische Kirche in Essen vor dem Hintergrund von „nationaler Erhebung“ und nationaler Katastrophe 1930 bis 1950. Dokumentation eines Symposions zur kirchlichen Zeitgeschichte im Haus der Evangelischen Kirche Essen am 19. Juni 2002, hrsg. vom Evangelischen Stadtkirchenverband Essen, Essen 2003.
  • Pfarrer Andreas Müller, Vorstandsvorsitzender des Diakoniewerks Essen. In: Die LUPE 2, hrsg. v. Diakoniewerk Essen (2018).
  • Wittmütz, Volkmar: Karl Schreiner (1899-1961). Gemeindepfarrer in Essen-Borbeck und Leiter des Essener Gemeindedienstes, in: Haas, Reimund/Bärsch, Jürgen (Hrsg.), Christen an der Ruhr, Band 3, Münster 2006 (S. 189-201).
  • Ecker, Christoph: Pfarrer Karl Schreiner, in: Protestantische Profile im Ruhrgebiet aus 5 Jahrhunderten, hrsg. von Michael Basse, Traugott Jähnichen und Harald Schroeter-Wittke, Kamen 2009. (S. 392/393).
  • Schneider, Nikolaus: Laudatio anlässlich der Auszeichnung „Gerechte unter den Völkern“ für Heinrich Held und das Ehepaar Johannes und Käthe Böttcher in der Alten Synagoge Essen am 16. November 2004. (https://www.ekir.de. – [Abgerufen am 17.02. 2025].
  • Keus, Helmut u. Vogels, Reiner: Gemeinde unter dem Wort. Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Essen-Schonnebeck (Hrsg. Evangelische Kirchengemeinde Essen-Schonnebeck), Essen 2005 (erweiterte Neuausgabe der Gemeindegeschichte 1983).
  • Die drei Leben des Gebäudes der evangelischen Kirche in Essen-Bergeborbeck, veröffentlicht am 20. Juni 2024 von Ulrich Dühr – http://blog.archiv.ekir.de. [Abgerufen am 20.02.2025].

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