Kersten, Heinrich

Heinrich Kersten wurde am 10. Oktober 1915 in Bochum (Wattenscheid) als Sohn des bei Krupp angestellten Betriebsassistenten Karl Friedrich Wilhelm Kersten (*11. April 1883) geboren. Die Mutter Anna Katharina (*18. August 1875) war Haushälterin. Wegen des berufsbedingten Wechsels von Bochum nach Essen zog der Vater mit der Familie nach Essen-Frohnhausen, wo Heinrich Kersten seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte. Nach der Fertigstellung der neuen Wohnungen der Firma Krupp in der Residenzaue 1930 erfolgte der Umzug nach Essen-Borbeck. Am 14. Mai 1941 heiratete Heinrich Kersten die aus Mülheim stammende Elisabeth Rölleke (*22. Januar 1917). Aus der Ehe gingen die Kinder Uwe (*1942), Jutta (*1944) und Heinz-Joachim, genannt Jochen (*1948) hervor.

Schule, Studium und Beruf

Von 1922 bis 1926 besuchte Heinrich Kersten eine evangelische Volksschule und anschließend bis 1935 die Krupp-Oberrealschule in Essen-West. Nach der Reifeprüfung im März 1935 studierte er von 1935 bis 1937 an der Hochschule für Lehrerausbildung in Dortmund und bestand hier im März 1937 die 1. Prüfung für das Lehramt an Volksschulen. Nach dem Reichsarbeitsdienst von April bis Oktober 1937 leistete Heinrich Kersten im Flakregiment 4 in Dortmund von November 1937 bis März 1939 seinen Wehrdienst. Unmittelbar nach Kriegsbeginn wurde er im August 1939 zur Flakartillerie eingezogen und kam an der Ostfront zum Einsatz. Im Mai 1941 wurde ihm eine rumänische Auszeichnung verliehen. Zuletzt war er Oberleutnant und Batteriechef eines Flak-Sturmregiments.

Im Juli 1945 begann Heinrich Kersten nach kurzer Gefangenschaft mit dem Schuldienst an der Schäferdiekschule. Er übernahm als Klassenlehrer die Klassen 1 bis 4, sein Kollege Karl Dabbert führte die Klassen 5 bis 8. Da das Gebäude in der Donnerstr. 139 nicht benutzt werden konnte, fand der Unterricht in der Weidenstraße statt, zusammen mit Kindern der Kraienbruchschule und der Reuenbergschule, deren Gebäude ebenfalls unbenutzbar waren. Die Rahmenbedingungen waren katastrophal. Es fehlte an Lehr- und Lernmitteln. Die Fenster der Unterrichtsräume waren zum Teil unverglast. Es wurde zuweilen so kalt, dass die Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts Aufwärmübungen machen mussten. Fast alle Kinder waren unterernährt und schlecht gekleidet. [Quelle: Chronik der Schule Essen-Dellwig I].

Auf Anordnung der Militärregierung vom Oktober 1945 wurde Heinrich Kersten im November 1945 im Rahmen der Entnazifizierung vorübergehend aus dem Schuldienst entlassen, obwohl er keiner politischen Partei angehört hatte. Das hatte eine Dienstzeitunterbrechung vom November 1945 bis Ende September 1946 zur Folge. Bis zu seiner Wiedereinstellung im Oktober 1946 arbeitete Heinrich Kersten als Hilfsarbeiter. Nach der Entnazifizierung wurde er 1946 als Klassenlehrer an der evangelischen Schäferdiekschule in Essen-Gerschede eingesetzt. Im Januar 1950 bestand er die 2. Lehrerprüfung. Von April 1950 bis Juni 1954 unterrichtete er als Klassenlehrer an der Schäferdiekschule mit 12 Klassen und 500 Kindern. In dieser Zeit erteilte er zusätzlich nebenamtlichen Unterricht an der Bergberufsschule Neukölln in Essen-Borbeck.

Nachdem er Beamter auf Lebenszeit geworden war, ernannte ihn der Essener Schulausschuss im März 1954 auf Vorschlag der Schulrätin für den Bezirk Essen III zum Konrektor. Im Dienstgutachten zeichnete sie ein durch und durch positives Bild von Heinrich Kersten: „Er ist ein warmherziger, einsatzbereiter, gewissenhafter und erfolgreicher Lehrer. Er besitzt das Vertrauen des Kollegiums, der Kinder und der Eltern.“ Im Mai 1957 übernahm er schließlich die Leitung der Schule. Nachdem die städtische ev. Schäferdiekschule im August 1968 in die „Hauptschule an der Hansemannstraße“ (städtische Gemeinschaftsschule) umgewandelt worden war, wurde er Rektor dieser Schule.

Im August 1976 wurden die Hauptschule im Hesselbruch und die Hauptschule an der Hansemannstraße zusammengelegt und als neu errichtete „Hauptschule an der Hansemannstraße“ geführt. In der Sitzung des Rates der Stadt Essen vom 29. September 1976 wurde der Volksschulrektor Heinrich Kersten mit der Leitung der neuen Schule betraut. Als deren Rektor war er hier bis zu seiner Pensionierung am 31. Juli 1978 tätig.

CVJM und Jugendaustausch

Unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Krieg kümmerte sich Heinrich Kersten zusammen mit vielen anderen Helferinnen und Helfern um den Wiederaufbau des zerstörten Gebäudes des CVJM 1865 e.V. Essen-Borbeck und in Gruppen- und Bibelstunden um die Wiederbelebung der Jugendarbeit. In den Folgejahren organisierte und begleitete er als Gruppenleiter Wandertage und Ferienlager ins Sauerland, die Eifel und bereits 1952 leitete er eine Fahrt mit 15 Jugendlichen mit dem Fahrrad nach Südengland. Dabei trieb ihn stets der Gedanke der Völkerverständigung an. Für seine Verdienste um den CVJM 1865 e.V. Borbeck wurde er 1969 zum Ehrenvorsitzenden ernannt.

Die Stadt Essen hatte mit der Stadt Sunderland in Nordengland bereits seit 1951 erste Kontakte, den Anstoß dazu gab die damalige britische Militärregierung. Zur Belebung dieses Austausches fuhr Heinrich Kersten 1959 erstmals mit einer Gruppe Jugendlicher in diese Stadt. Aus dem Besuch der Youth-Brass Band aus Sunderland vom 31. Juli bis 11. August 1967 in Essen und dem Gegenbesuch des Schönebecker Jugend-Blasorchesters im Juli 1968 in Sunderland entwickelte sich später eine Partnerschaft der Stadt Essen mit Sunderland.

Als Mitglied der Krupp-Stiftung konnte Heinrich Kersten noch viele wichtige Jugendprojekte anstoßen.

Deutsch-Französische Jugendbegegnung

Als Vorstandsmitglied des Essener Stadtjugendrings leitete Heinrich Kersten 1957 eine Jugendfreizeit in der südfranzösischen Stadt Romans-sur-Isère in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Trotz aller Vorbehalte und Widerstände in der Bevölkerung gegen den Aufenthalt von Jugendlichen aus Deutschland kam nach und nach ein fester Jugendaustausch mit dieser kleinen Stadt zustande, die im 2. Weltkrieg ein Zentrum der Résistance war. Romans wurde im September 1943 von der Wehrmacht besetzt und erst im August 1944 von US-Soldaten befreit. Eine Gedenktafel, die 2010 neben dem Rathaus aufgestellt wurde, würdigt die Verdienste der Résistance von Romans. Zum Abbau der Vorbehalte haben gewiss eine von Heinrich Kersten initiierte Kranzniederlegung und das Schuldeingeständnis beigetragen. Bis Mitte der 1960er-Jahre begleitete Heinrich Kersten mehrfach Jugendgruppen nach Romans.

Von seinen Kontakten profitierte auch das Schönebecker Jugend-Blasorchester Essen, das mit der „Batterie de Fanfare“ (André Beutler, Vorsitzender von 1959 bis 1974) und ab 1984 mit der „Harmonie de Jaquemart“ (Serge Furminieux, Vorsitzender von 1988 bis 1995) vom Ende der 1970er-Jahre bis in die Mitte der 1990er-Jahre Kontakt hatte (Orchesterfahrten des SJB nach Romans 1979 und 1989). Man kann sagen, dass Heinrich Kersten für die europäische Einheit und die internationale Völkerverständigung mehr geleistet hat als viele Politiker und Diplomaten. Er hat deren große Worte und feierliche Versprechungen in unmittelbare Begegnungen junger Menschen aus Frankreich und Deutschland umgesetzt und mit Leben gefüllt. Schritt für Schritt, so die Borbecker Nachrichten in ihrem Bericht über die Fahrt des SJB nach Romans im März 1970, hat Heinrich Kersten dazu beigetragen, dass die Jugend eine Zukunftsperspektive bekommt, in der es keine Vorurteile und Feindschaften mehr gibt (Borbecker Nachrichten Nr. 12/20. März 1970).

In seiner Dankesrede beim Arena-Konzert der „Batterie de Fanfare“ aus Romans im August 1973 hob deren Vorsitzender Alfred Beutler die besonderen Verdienste von Heinrich Kersten um den Brückenschlag zwischen Romans und Essen hervor und sprach ihm seinen herzlichen Dank aus. Beim Besuch der „Batterie de Fanfare“ 1982 in Borbeck berichtete Heinrich Kersten ausführlich über die Entstehung der interkulturellen Bande zwischen den Jugendorchestern und der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Romans und Essen. (Borbecker Nachrichten Nr. 27/ 2. Juli 1982).

Die Kriegserfahrungen im 2. Weltkrieg, die er als Soldat an der Ostfront gemacht hat, waren ein wichtiges Motiv für seine Bemühungen um eine Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Schon früh fand er im Borbecker Friedel Hanster (1919-2009), dem Jugend, Kultur- und Völkerverständigung ebenso am Herzen lagen, einen engagierten Mitstreiter. Friedel Hanster war 1950 Gründungsmitglied des Bundes Europäischer Jugend, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Essener Jugendverbände (später Stadtjugendring Essen) und von 1957 bis 1959 Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Kulturrings der Essener Jugend. Von 1973 bis 1976 stellte er als Vorsitzender den Förderkreis des Schönebecker Jugend-Blasorchesters auf eine solide Grundlage und leitete von 1976 bis zu seinem Tode 2009 den Essener Theaterring. Mit Friedel Hanser verband Heinrich Kersten eine jahrelange enge Freundschaft. Die beiden haben gemeinsam eine Menge bewegt.

Unterstützung des SJB

Dem Schönebecker Jugend-Blasorchester und dessen Förderkreis war Heinrich Kersten sehr gewogen. Beim Festkonzert zum 20jährigen Bestehen des SJB im November 1979 in der Aula des Mädchengymnasiums erhielt er wie auch Gustav Streich und August Emde einen Bronzeguss von Schloss Borbeck mit dem Essener Stadtwappen. Wenn er gerufen wurde, ließ er sich nicht lange bitten. Er war zur Stelle, wenn es galt, Unstimmigkeiten und interne Konflikte zu lösen. Wie zum Beispiel im März 1983, als der Förderkreis für das Schönebecker Jugend-Blasorchester in einer schwierigen Lage nach einem Krisenmanager suchte. Als Leiter einer außerordentlichen Jahreshauptversammlung im März 1983 gelang es Heinrich Kersten durch geschickte Versammlungsleitung, die Gemüter zu beruhigen und den Konflikt beizulegen.

Kirche

Heinrich Kersten, der durch das Elternhaus und Besuche im evangelischen Weigle-Haus in Essen eine starke christliche Prägung erfahren hatte, engagierte sich stark in der evangelischen Kirchengemeinde Borbeck. Er war hier 34 Jahre Presbyter tätig, davon 20 Jahre als Kirchmeister. In dieser Zeit war er auch Mitglied der Kreissynode Essen. Darüber hinaus war er 17 Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender des ev. Bethesda-Krankenhauses in Essen-Borbeck. Von 1964 bis 1972 gehörte er als Vertreter des Kirchenkreises Essen-Nord der Landessynode der evangelischen Kirche im Rheinland an. Dabei hat er wichtige Entscheidungen im Schulausschuß der Landeskirche mitgeprägt.

Politik

Nach der Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959 trat Heinrich Kersten der SPD bei. Für den Stadtteil Gerschede-Frintrop saß er von 1961 bis 1979 im Rat der Stadt Essen und setzte als stellvertretender Vorsitzender im Jugendwohlfahrtssauschuss jugendpolitische und als Vorsitzender im Ausschuss Schulplanung und Schulneubau schulpolitische Akzente. Schwerpunkte seiner Tätigkeit waren der Bau von Kindertages- und Jugendfreizeitstätten und die Bereitstellung von Freizeitangeboten für junge Menschen.

Zusammen mit anderen Borbecker Ratsherren wie Gustav Streich, August Emde, Hans Mertens, Erich Immesberger, Kurt Westerkamp, Norbert Königshofen, Klaus Fehr und Helmut Wolff bildete Heinrich Kersten eine gefürchtete „Borbeck-Fraktion“, die dem Rat der Stadt Essen mit ihrem geschlossenen Auftreten immer wieder Paroli bot. Auch darin zeigte sich die Fähigkeit von Heinrich Kersten, Scheuklappen abzulegen und über Parteiinteressen hinweg nach praktischen Lösungen für die Borbecker Bürgerinnen und Bürger zu suchen.

Kultur und Sport

Heinrich Kersten war an seiner Schule Beauftragter für alle Fragen des Schwimmunterrichts. Bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft war er als Ausbilder und Prüfer tätig. Dass Heinrich Kersten auch für die Kultur offen war, wird daran ersichtlich, dass er beinahe ein ganzes Jahrzehnt dem Vorstand des Essener Theaterrings angehörte. In Borbeck koordinierte er als ehrenamtlicher Kulturreferent die Arbeit der Kulturschaffenden, eine langjährige Aufgabe, die er im Januar 1989 an Franz Josef Gründges, den Vorsitzenden des Förderkreises für das Schönebecker Jugendblasorchester und 2. Vorsitzenden des Bürger- und Verkehrsvereines weitergab.

Nachwort

Heinrich Kersten starb am 27. Mai 1999 in Essen. Große Worte waren nie seine Sache. Uneigennützig verfolgte er seine Ziele, getragen von christlichen Werten und der Liebe zu den Menschen. Er hat in seinem Leben viel für Kinder und Jugendliche und für die Völkerverständigung getan.

FJG

 

Quellen

Personalakte von Heinrich Kersten aus dem Bestand des Stadtarchivs Essen (Listen-Nr. 2/82, lfd. Nr. 145).

Artikel aus den Borbecker Nachrichten Nr. 12 / 20. März 1970, Nr. 27 / 2. Juli 1982, Nr. 22 / 03.06.1999 und vom 03.02.1989

Homepage des CVJM 1865 e.V. Borbeck.

Chronik des Schönebecker Jugend-Blasorchesters Essen.

Archiv der Familie Kersten (Heinz-Joachim Kersten).

 

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