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Wer von Essen oder Bottrop kommend die Alte Bottroper Straße benutzt, findet rechts und links der Straße nur noch Gewerbegebiet. Seit der Sanierung der Wohnsiedlung Brauk in den 1970er-Jahren ist sämtliche Wohnbebauung verschwunden. Auch die katholische Kirche St. Bernhard und die Gaststätte „Moritz an der Wippe“ (um 1900 „Sandgathe“) im Kreuzungsbereich Alte Bottroper Straße und Weidkamp sind dem Bagger zum Opfer gefallen. Wie vom Erdboden verschluckt ist auch eine alte ehrwürdige Schule – die katholische Schule Vogelheim II. An diese Schule soll hier - stellvertretend für die vielen anderen Schulen in Borbeck - erinnert werden.
Wie so vieles im Ruhrgebiet, hat der Bergbau auch die Schule, um die es im Folgenden geht, zur Welt gebracht. Für die im ausgehenden 19. Jahrhundert rasant zunehmende Zahl der überwiegend polnischen Bergarbeiter, die auf den Zechen Christian Levin und Neucöln arbeiteten, und für deren Familien wurde in Zechennähe dringend Wohnraum benötigt. Auf den akut ansteigenden Bedarf war man in der Bürgermeisterei nicht hinreichend vorbereitet. Entlang der damaligen Bruchstraße (heute Alte Bottroper Straße) gab es vor der Jahrhundertwende lediglich eine unsystematische, individuelle Wohnbebauung. Karten von damals zeigen das Bild einer zufällig wachsenden Gemengelage aus Zechen, Fabriken, Straßen, Arbeitersiedlungen, Halden, Brachen und Schienenwegen.
Erst um 1900 sind die Anfänge einer Zechensiedlung zu erkennen. Der Borbecker Gemeinderat erteilte dem Bauunternehmer Fritz Pahl im Januar 1900 die Genehmigung zur straßenmäßigen Erschließung einer Arbeitersiedlung. Zuvor hatte Pahl in Eigeninitiative den Bau von Häusern betrieben. So waren nach und nach die Hugo-, Robert- und Albertstraße entstanden. Den Bau der Häuser an der Bruchstraße teilten sich Privatleute und der Bergwerksverein König Wilhelm. Die Karte der Gemeinde Borbeck von 1904 verzeichnet für die Bruchstraße parallel zur Straßenführung eine relativ dichte Wohnbebauung zwischen Heegstraße und Hesselstraße (heute Weidkamp).
Im Abschnitt zwischen der Kreuzung Bruchstraße/Hesselstraße) und der Zechenbahn, die von Katernberg nach Osterfeld ging und an den Zechen Christian Levin und Carolus Magnus vorbeiführte, errichtete die Gemeinde Borbeck im Jahre 1898 die vierklassige katholische Volksschule Vogelheim II. Zum Schulleiter wurde der Hauptlehrer Franz Pesch (1863-1926) ernannt. 1902 wurde der bestehenden Einrichtung eine ebenfalls vierklassige katholische Mädchenschule angegliedert. Deren Leitung übernahm die aus dem Sauerland stammende Hauptlehrerin Christine Wüllner (1859-1951). Die wegen ihrer Herzensgüte allseits beliebte und geschätzte Pädagogin schied im Februar 1905 aus persönlichen Gründen aus dem Schuldienst aus, zog in ihre sauerländische Heimat zurück und heiratete im Mai 1905 in Bracht bei Schmallenberg den Landwirt Wilhelm Koch. Christine Wüllner machte sich später unter dem Namen Christine Koch einen Namen als Heimatdichterin der sauerländischen Mundart.
Über die weitere Geschichte der Schule ist nur wenig bekannt. Jahresberichte oder andere zusammenhängende Darstellungen gibt es nicht. So ist man bei der Rekonstruktion der Schulgeschichte auf Zufallsfunde und persönliche Dokumente angewiesen. Zunächst sollen die in mühevoller Kleinarbeit zusammengesuchten Informationssplitter aufgeführt werden. Demnach gehörten zu der von Franz Pesch geleiteten Jungenschule in den Anfangsjahren die Lehrer Claessen, Daniels, Dietrich, Hill, Hohmann, Kalinski, Kickartz, Otto und Wilhelm Rohmann, an der Mädchenschule unterrichteten die Lehrerinnen Bayer, Genthe, Müller, Philippi, A. Schemann und Wilhelmine Vondé.
Zu den Schülerinnen und Schülern gibt es keine Angaben. Bekannt ist lediglich, dass Johannes Unterberg aus der Bruchstr. 110 von 1903 bis 1908 die Schule besucht hat. Im Abschlusszeugnis bescheinigte Rektor Franz Pesch dem Schüler „recht gutes“ Betragen und entließ ihn „mit den besten Wünschen für sein ferneres Wohlergehen.“ Ende 1939 wurde Pater Johannes Unterberg von den Nazis in „Schutzhaft“ genommen und starb 1940 im KZ Sachsenhausen. Über die weitere Geschichte der Schule unter Rektor Konrath und Lehrer Ackermann ist so gut wie nichts bekannt.
In den 1950er- und 1960er-Jahren war im Gebäude der alten Schule, das im Krieg nicht zerstört worden war, eine Frauenfachschule untergebracht, eine Berufsschule für junge Frauen mit einer Ausbildung in Handarbeiten, Werken und Kochen. Die katholischen Mädchen und Jungen aus dem Brauk mussten den weiten Weg bis zur Kraienbruchschule in Dellwig absolvieren, die evangelischen Schülerinnen und Schüler besuchten die Schäferdieckschule in der Weidenstraße in Gerschede. Aus Raummangel wurden 1962 drei Klassen der Höltingschule im Schulgebäude im Weidkamp 272 unterrichtet. Hausmeister war lange Zeit ein Hans Kosack. Im Zuge der Sanierung des Brauk wurde das Schulgebäude abgerissen. Mehr gibt es nicht zu berichten.
Der Zufall will es, dass zwei Zeugnishefte der Schule Vogelheim II erhalten geblieben sind. Es handelt sich um das Zeugnisheft von Franz G., Schüler von 1917 bis 1925, und das Zeugnisheft von Marianne F., Schülerin von 1921 bis 1925. Die Auszüge aus ihren Zeugnisheften geben Einblick in die Schulausbildung und das pädagogische Grundverständnis der damaligen Zeit. Das Schulentlassungszeugnis vom 31. März 1925 für Franz G., Schüler der I. Klasse der kath. Volksschule Vogelheim II, geboren am 4. Mai 1911 zu Borbeck, weist die Unterschriften von Rektor Pesch, Pfarrer Lambertz, Lehrer Hill und drei weiteren Lehrern auf, deren Unterschriften unleserlich sind. Der Schüler erhielt Noten in Betragen, Ordnungsliebe, Aufmerksamkeit, Fleiß, Biblische Geschichte, Katechismus, Lesen, Sprachfertigkeit, Rechtschreiben, Aufsatz, Rechnen, Raumlehre, Geschichte, Erdkunde, Naturbeschreibung, Naturlehre, Schönschreiben, Freihandzeichnen, Gesang und Turnen. In Betragen und Katechismus bekam der Schüler die Note sehr gut, in allen anderen Fächern musste er sich mit einem „gut“ zufriedengeben.
Die Schülerin Marianne F., katholisch, geboren am 06.02.1914 in Essen-Borbeck, wurde am 01.04.1920 in der katholischen Volksschule Vogelheim II eingeschult. Ihr Zeugnis über die Leistungen im 2. Halbjahr des Schuljahres 1920/21 vom 21. März 1921 wurde unterschrieben von der Klassenlehrerin A. Schemann und vom Vater der Schülerin Heinrich Frank. Insgesamt erhielt die Schülerin zwölf Noten: Betragen: sehr gut. Ordnungsliebe: sehr gut. Aufmerksamkeit: sehr gut. Fleiß: sehr gut. Biblische Geschichte: gut. Katechismus: gut. Lesen: sehr gut. Sprachfertigkeit: gut. Rechtschreiben: sehr gut. Rechnen: sehr gut. Schönschreiben: gut. Gesang: gut. Besondere Bemerkungen: steigt! Das Übergangszeugnis zur weiterführenden Schule am Ende des Schuljahres 1924/25 vom 7. Februar 1925 enthält die handschriftlichen Zusätze „16. U. 19.2.25 geprüft“ und „reif für VI“. Das Zeugnis weist neunzehn Noten auf. Zu den bereits in der 1. Klasse erteilten Noten sind die Fächer Aufsatz, Geschichte, Erdkunde, Naturbeschreibung, Zeichnen, Turnen und Weibliche Handarbeiten hinzugekommen. Die Schülerin erhielt sieben Mal die Note sehr gut, elf Mal die Note gut und ein Mal die Note ziemlich gut. Reihenfolge der Zeugnisurteile: A. Für Betragen und Ordnungsliebe: Sehr gut, gut, befriedigend, nicht immer befriedigend, tadelnswert. B. Für Fleiß, Aufmerksamkeit und Leistungen: Recht gut, gut, genügend, mangelhaft, ungenügend.
Dem Zeugnisheft ist „ein Wort an die Eltern und Vormünder“ vorgesetzt. Es betont die hohe Bedeutung einer harmonischen Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus und listet ausführlich die Pflichten aus, die den Eltern auferlegt sind.
„Wenn Ihr Euer Kind wahrhaft lieb habt, so werdet Ihr es als eine Eurer heiligsten Pflichten ansehen, es mit den Kenntnissen und Fertigkeiten auszurüsten, welche für des Leben in unserer Zeit unentbehrlich sein, und es zu einem braven und gottesfürchtigen Menschen zu erziehen. Die Lehrer wollen Euch in der Erfüllung dieser schweren Pflicht unterstützen, wollen das leibliche und geistliche Wohl der ihnen anvertrauten Kinder nach bestem Wissen und Gewissen fördern. Es wird Euch daher lieb sein, durch die nachstehenden Zeugnisse von Zeit zu Zeit zu erfahren, wie die Lehrer Eures Kindes über dasselbe urteilen. Soll Euer Kind durch die Schule so gefördert werden, wie Ihr es wünscht und wie es zum wahren Wohle desselben dient, so ist es notwendig, dass Ihr das Urteil der Lehrer über dasselbe beherzigt und dass Ihr Euch nach Kräften bemüht, die Fehler und Schwächen, die Eurem Kinde nach Ausweis der Zeugnisse noch anhaften, zu beseitigen. Nur wenn Ihr den Lehrern Vertrauen entgegenbringt und mit ihnen Hand in Hand geht, kann das Werk der Erziehung Eures Kindes gedeihen. Darum vermeidet alles, was irgendwie die Achtung und Ehrfurcht Eures Kindes vor den Schule und den Lehrern beeinträchtigen könnte. So wie die Lehrer mit allem Fleiß Euer Kind anhalten, Euch zu ehren und zu lieben, so wollet auch Ihr von ihm Gehorsam und willige Folgsamkeit gegen seine Lehrer fordern. Bessere Schätze als eine gute Erziehung sowie gute Kenntnisse und Fertigkeiten könnt Ihr Eurem Kinde nicht auf seinen Lebensweg mitgeben. Bedenkt daher wohl, wie schwer Ihr Euch an ihm versündigt, wenn Ihr es ohne Not vom Schulbesuch und von der Ausführung der Schularbeiten abhaltet! Tut alles, was in Euren Kräften steht, um Euer Kind an regelmäßigen und pünktlichen Schulbesuch, an gesittetes Betragen auch außerhalb der Schule und der Schulzeit zu gewöhnen, es zur Ehrlichkeit, zur Wahrheitsliebe, zu opferwilliger Nächstenliebe, zum Gemeinsinn, zur Vaterlandsliebe und zu aufrichtiger Gottesfurcht zu erziehen! Beachtet die für die Schule bestehenden Gesetze und Ordnungen genau und verabsäumt es nicht, nötigenfalls mit dem Lehrer Eures Kindes oder dem Rektor der betreffenden Schule persönlich Rücksprache zu nehmen und zu beraten, was Eurem Kinde frommt. Gebe Gott, dass Eure und der Lehrer Bemühungen um das Wohl Eures Kindes gute Früchte tragen, damit es aufwächst zu Eurer Freude, zum Heile unseres Vaterlandes und zur Ehre Gottes!
Essen, 23. April 1896
Die städtische Schuldeputation: Zweigert
Soweit die offiziellen Dokumente. Bleiben noch die informellen Informationen aus der Feder des eingangs erwähnten Hermann Hagedorn, die im Hinblick auf dessen allseits bekannte Fabulierlust mit einiger Vorsicht zu genießen sind. Der Heimatdichter und spätere Rektor der Stifterschule Hermann Hagedorn übernahm, nachdem er als Junglehrer Ausbildungsstationen an den katholischen Schulen Dellwig II (heute Kraienbruchschule und Gerschede (heute Hans-Gipmann-Haus in der Weidenstraße) durchlaufen hatte, für kurze Zeit Vertretungsunterricht an der kath. Schule Vogelheim II.
In seinen Erinnerungen zeichnet er ein liebenswürdiges Bild von Hauptlehrer Franz Pesch. Dieser habe im Kollegium, das sich seine Freiheiten gegenüber dem Schulleiter bewahren wollte, einen schweren Stand gehabt. Er – Hagedorn - habe immerhin eine Annäherung der beiden Seiten erreicht. Er sei der einzige Kollege gewesen, den Franz Pesch geduzt habe. Oft hätten sie Pfeife (Pesch) und Zigarre rauchend (Hagedorn) nebeneinander gesessen und über erzieherische und sonstige Dinge geplaudert. Ein anderes Mal ist von einem gemeinsamen Weinkonsum die Rede, der für Franz Pesch in der Mittagspause auf dem Sofa und für den sichtlich angeheiterten Hermann Hagedorn auf den Stufen der Schultreppe endete. Soweit die nicht ganz ernst zu nehmenden Erinnerungen Hagedorns an die katholische Volksschule Vogelheim II.
Mit dem Brauk ist auch die Schule verschwunden. Auf dem Grundstück hat sich ein Unternehmen angesiedelt. Wo die Kneipe stand, befindet sich heute ein Autohaus. Die Fläche, auf der die Kirche St. Bernhard 1958 errichtet wurde, ist eine Wiese. So ist gleichsam Gras über die Vergangenheit des geschichtsträchtigen Terrains gewachsen. (FJG)
Quellen:
Zeugnishefte von Marianne F. und Franz G.
Hagedorn, Hermann: Auf eigener Fährte, in: Borbecker Nachrichten Nr. 12 vom 17. März 1961.
Koerner, Andreas: Anfänge der Schule im Brauk, in: Borbecker Beiträge 3/2010, S. 116-120.