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„Nachtigall, ick hör dir trapsen“. Die Wirkung der Redewendung, die nach böser Vorahnung klingt, hängt davon ab, ob die Nachtigall oder der Nachtigal daherkommt. Das Beispiel macht deutlich, wie wichtig ein einzelner Buchstabe, hier das schlichte ‚l‘, sein kann. Beispielsweise wird seit Mitte 2024 in der Bremer Bürgerschaft im Streit um die Umwidmung von Straßen über eine Petition beraten, der Nachtigal-Straße in Bremen-Walle ein „l“ anzuhängen und ein Schild anzubringen, auf dem der Grund für die Umwidmung zu lesen ist.
Auch in der Krupp-Siedlung Essen-Gerschede gibt es eine Gustav-Nachtigal-Straße. Sie verbindet die Hülsmannstraße mit der Hansemannstraße und ist eine Parallelstraße der Bischof-Franz-Wolf-Straße. Sie erhielt ihre Bezeichnung 1939 von den Nationalsozialisten. Weitere Straßen in der Siedlung mit kolonialem Bezug: Hansemannstraße (benannt nach einem Bankier und Unternehmer mit kolonialen Wirtschaftsinteressen), Askaristraße, Kamerunstraße, Windhukweg, Tangabucht, Südseestraße und Samoastraße. Die Karl-Peters-Straße wurde 2003 in Bischof-von-Wolf-Straße umbenannt.
Die folgenden Ausführungen wollen keinen Streit über die Umwidmung von Straßen in Gang setzen. Ebenfalls sind sie keineswegs als Plädoyer für oder gegen den Mann misszuverstehen, nach dem Straße in Gerschede benannt worden ist. Es ist vielmehr der Versuch, das Leben und Wirken eines Mannes nachzuzeichnen, dessen Persönlichkeit viele Facetten hat und der lange Zeit – anders als zum Beispiel Straßennamengeber wie Karl Peters – nur selten Gegenstand öffentlicher ideologischer Auseinandersetzungen gewesen ist. Es soll dabei aber nicht außer Acht bleiben, dass seit den 2000er-Jahren die Ehrung Gustav Nachtigals durch Denkmäler und Straßennamen in vielen Städten Deutschlands zunehmend kritisch diskutiert wird und dass es in den vergangenen Jahren vermehrt zu Umbenennungen von Gustav-Nachtigal-Straße gekommen ist. Spätestens seit 2019 ist die koloniale Frage auch Gegenstand von Bundestagsdebatten. Zuletzt diskutierte man über die Rückgabe von Kulturgut aus den ehemaligen Kolonien.
Gustav Nachtigal wurde am 23. Februar 1834 als Sohn einer Pfarrersfamilie in Eichstedt (Altmark) geboren. Er starb am 20. April 1885 vor der Küste Westafrikas an Bord des kaiserlichen Kanonenboots „Möwe“. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Halle, Würzburg und Greifswald und schloss das Studium 1857 mit der Promotion ab. Anschließend war er als Militärarzt in Köln tätig. Ein in Berlin begonnenes Studium der Augenheilkunde brach er wegen eines schweren Lungenleidens ab, von dem er sich in einem warmen und trockenen Klima Heilung versprach. Zu diesem Zweck reiste Gustav Nachtigal im Oktober 1862 nach Bona (frz. Bône) im Nordosten Algeriens an der algerischen Küste. Hier lernte er Arabisch und stellte naturkundliche Studien an. Im Juni 1863 ging er nach Tunis, praktizierte dort als Arzt und wurde Leibarzt des Bey von Tunis. Im Dezember 1868 begegnete er dem Afrikaforscher Georg Rohlfs (1831-1896). Nachtigal erklärte sich bereit, an dessen Stelle dem Sultan Omar von Bornu am Tschadsee im Namen von König Wilhelm I. von Preußen als Dank für die Unterstützung deutscher Forschungsreisender Geschenke zu überbringen. Auf der nun folgenden langen Forschungsreise spielte für ihn der von Rohlfs übernommene diplomatische Auftrag eine eher untergeordnete Rolle. Sein Ziel war, möglichst viele noch nicht von Europäern betretene Regionen in Nordafrika zu erkunden, dies alles ohne über grundlegende Kenntnisse in der Kartographierung, Vermessungskunde, Botanik, Geologie und Zoologie zu verfügen.
Am 17. Februar 1869 brach Gustav Nachtigal mit einigen Begleitern, Reitpferden und Kamelen von Tripolis in Libyen zur Forschungsreise in den Tschad auf. Nach 35 Tagen erreichte er den Ort Murzuk in Libyien, Residenzstadt des Scheichs von Bornu mit etwa 3.000 Einwohnern Er erforschte zunächst das Gebiet um das Tibesti-Gebirge im äußersten Nordwesten des Tschad. Die nächste Unternehmung führte ihn Mitte 1870 von Murzuk in den mittleren Sudan. Auf dieser Unternehmung wurde er in Bardai, einem Ort im Nordwesten des Tschad an der Grenze zu Libyien, überfallen, konnte aber entkommen. Unterwegs übergab er in Bornu auftragsgemäß die kaiserlichen Geschenke an den Sultan von Bornu. Von März 1871 bis Februar 1872 reiste er von Kuka in die Region Kanem am Tschadsee im Grenzbereich von Sudan, Tschad und Niger und kehrte über Borku in der Region Niger nach Kuka zurück.
Im März 1872 machte er sich mit einigen Begleitern, Reitpferden und Lastochsen erneut auf den Weg. Die Reise führte ihn ins Sultanat Bargirmi im Südosten des Tschadsees. Hier waren mit dem Vordringen des Islam mehrere Königreiche entstanden, deren Herrscher sich erbittert bekämpften. Mit den „Ungläubigen‘ machten sie kurzen Prozess. Sofern sie sich diese nicht unterwarfen, wurden sie getötet oder als Sklaven gefangengenommen.
Im Sultanat Bagirmi traf Gustav Nachtigal mit seinen Leuten auf einen islamischen Trupp, der auf der Jagd nach Nahrung und Sklaven war. Ausführlich schilderte er die Erfahrungen, die er als Augenzeuge des Beute- und Kriegszugs der Bagirmi machte. Detailliert beschreibt er die Jagd auf die Bewohner von Kimre, die sich auf bis zu 70 Meter hohe riesige Baumwollbäume zurückgezogen und darin regelrechte Baumhäuser angelegt hatten. Er wurde Zeuge einer brutalen Menschenjagd, die er in seinen Notizen als „roh“ und „ekelhaft“ verurteilte. In seinem Erfahrungsbericht gibt es Passagen, in denen er die „feige Unmenschlichkeit“ der Sklavenhändler verurteilt, die Männer, Frauen und Kinder mit ihren Flinten „wie Perlhühner“ abschossen, die Leichname zerstückelten und die Überlebenden als Handelsware betrachteten. Seine Versuche, das grausame Vorgehen der Krieger aufzuhalten, schlugen fehl. Er selbst weigerte sich, mit seinem Karabiner (Hinterlader) in die Kämpfe einzugreifen und machte aus seinem Abscheu gegen das grausame Vorgehen der Bagirmi kein Hehl. Aus Gründen religiöser Toleranz hielt er sich jedoch, wie er schrieb, aus den „Glaubensstreitigkeiten“ heraus. Seine Empörung über die „feige Unmenschlichkeit“ ließ die religiösen Fanatiker völlig unbeeindruckt. Sie waren fest davon überzeugt, im Kampf gegen die Heiden das Recht auf ihrer Seite zu haben, weil diese die Unterwerfung unter einen mohammedanischen König und die Gesetze des Islam verweigert hätten. Nachtigals Interventionsversuche blieben erfolglos. Als sich die Versorgungslage dramatisch verschlechterte und die Sorge um Leib und Leben stieg, fragte ihn der Anführer, wie man aus der schwierigen Situation herauskommen könne.
„Ohne Schonung antwortete ich ihm darauf, dass der allmächtige Gott Fürsten und Menschen ohne ‘Amân‘ [Erbarmen, Gnade, Rücksichtnahme] nicht segne, und dass wir Christen uns nur in ehrbare Angelegenheiten mischten. Er müsse selbst sehen, wie er zurechtkomme, mich werde Gott schon zur rechten Stunde aus so treuloser Gesellschaft erretten.“
Im August 1872 kehrte Nachtigal nach Kuka zurück. Von Februar 1873 bis August 1874 machte er sich auf den Weg in den Sudan. Dabei gelang es ihm, das Schicksal der beiden Afrikaforscher Eduard Ludwig Vogel (1829-1856) und Karl Moritz von Beurmann(1835-1863) aufzuklären, die vermutlich auf Befehl des Sultans von Wardai im Osten des Tschad ermordet worden waren. Im August 1874 erreichte Nachtigal die letzte Station seiner Forschungsreise - El-Obeid, die Hauptstadt Kordofans (auch Kurdufan), eine Kulturlandschaft im Sudan zwischen Darfur und dem Tal des Weißen Nils. Er war damit der erste Europäer, der vom Tschadsee aus nach Osten bis zum Nil vorgestoßen ist.
Nach mehr als 12.000 Kilometern, die Nachtigal unter ungeheuren Strapazen zwischen 1868 und 1874 zu Pferd, auf Eseln und Kamelen und zu Fuß zurückgelegt hatte, kehrte er 1875 von seinen Reisen durch Regionen Zentralafrikas, die der europäischen Öffentlichkeit bis dahin unbekannt waren, über Khartum und Kairo nach Deutschland zurück. Hier feierte man den Verfasser der Forschungsstudie „Sahara und Sudan“ als bedeutenden Afrikaforscher und ließ ihm zahlreiche Ehrungen zukommen. 1878 wurde er Mitglied in der „Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina“. Es folgte nach dem Erscheinen des ersten Bandes seines Reise- und Forschungsberichts 1879 die Ernennung zum Präsidenten der Berliner „Gesellschaft für Erdkunde“ und zum stellvertretenden Vorsitzenden der pro-kolonialen „Afrikanischen Gesellschaft von Deutschland“. Für die Erschließung des Kongo nahm der belgische König Leopold II. die exzellenten Kenntnisse des deutschen Afrikaforschers in Anspruch. Wegen seines Renommees als Afrikaexperte wurde Gustav Nachtigal 1882 zum deutschen Generalkonsul in Tunis ernannt und trat in dieser Funktion in den auswärtigen Dienst des Kaiserreichs ein. Auf Drängen von Reichskanzler Bismarck übernahm er die Aufgaben eines Reichskommissars für Westafrika, verbunden mit dem Auftrag, „Schutzverträge“ für die Handelsstützpunkte deutscher Kaufleute abzuschließen und deren Landkäufe gegen die europäische Konkurrenz absichern.
„Schutzverträge“ waren Abkommen zwischen Vertretern der jeweiligen Kolonialmacht mit einheimischen Königen und sonstigen lokalen Oberhäuptern. Dadurch sicherten sich die Kolonialmächte formal das Recht auf Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Besteuerung. Die einheimischen Vertragspartner erhofften sich im Gegenzug Schutz und Unterstützung gegen ihre Feinde. Die deutschen „Schutzgebiete“ waren weder Staaten noch reguläre Kolonien und waren demnach keine Bestandteile des deutschen Reichsgebiets. Sie unterstanden zwar der Souveränität des Deutschen Reichs, waren ihm staatsrechtlich aber nicht einverleibt. Man nahm die „Schutzgebiete“ erst zu dem Zeitpunkt offiziell in den Besitz des Reichs, als sich zeigte, dass die in den Händen von Privatleuten liegende Wirtschaft und Verwaltung erhebliche strukturelle Defizite offenbarte. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Kolonialpolitik zu einer nationalen Aufgabe. Die „Schutzgebiete“ wurden zum Zwecke der besseren wirtschaftlichen Ausbeutung strukturell und organisatorisch ausgebaut, etwa durch den Bau von Eisenbahnlinien und Fabriken.
Gustav Nachtigal kam als Generalkonsul dem Auftrag Bismarcks nach. Über Marseille reiste er nach Lissabon und stach dort im Mai 1884 mit drei Kriegsschiffen in See. In Togo, Kamerun und Südwestafrika schloss er mit den einheimischen Herrschern „Schutzverträge“ ab. Dabei setzte er, um Druck zu erzeugen, Kanonenboote ein und griff in einem Fall auch zum Mittel der Geiselhaft. In zeitgenössischen Berichten deutscher Zeitungen wurde seine Tätigkeit begeistert aufgenommen:
„Er führte dabei das bekannte Wettrennen auf einem deutschen Kanonenboot mit Engländern durch, die ihm kurz auf den Fersen saßen. Am 5. Juli hisste er in Bagida in Togo und am 14.7.1884 in Duala in Kamerun die deutsche Flagge.“ [Westdeutscher Beobachter vom 8. Juni 1936; zitiert nach Bechhaus-Gerst, S. 4].
Heute noch erinnert in Douala ein Denkmal an das Hissen der deutschen Flagge beim Abschluss des „Schutzvertrags“ in der kleinen Stadt Bagida an der zentralatlantischen Küste in Togo vom 5. Juli 1884. Vertragspartner waren der Generalkonsul des Deutschen Reiches, Dr. Gustav Nachtigal im Namen seiner Majestät des Deutschen Kaisers und Mlapa, König von Togo. Der Artikel 1 lautete:
„§ 1: König Mlapa von Togo, geleitet von dem Wunsch, den legitimen Handel, welcher sich hauptsächlich in den Händen deutscher Kaufleute befindet, zu beschützen und den deutschen Kaufleuten volle Sicherheit des Lebens und Eigentums zu gewähren, bittet um den Schutz Seiner Majestät des Deutschen Kaisers, damit er in den Stand gesetzt werde, die Unabhängigkeit seines an der Westküste von Afrika, von der Ostgrenze von Porto Seguro bis zur Westgrenze von Lomé oder Bey Beach sich erstreckenden Gebietes zu bewahren. Seine Majestät der Kaiser gewährt seinen Schutz unter dem Vorbehalt aller gesetzmäßigen Rechte Dritter.
2: König Mlapa wird keinen Teil seines Landes mit Souveränitätsrechten an irgendeine fremde Macht oder Person abtreten, noch wird er Verträge mit fremden Mächten ohne vorherige Einwilligung Seiner Majestät des Deutschen Kaisers eingehen.“
König Mlapa verpflichtete sich außerdem, die bestehenden Zölle oder Abgaben nur mit Zustimmung des Deutschen Kaisers zu verändern. Im Gegenzug versprach der Kaiser, alle von König Mlapa abgeschlossenen Handelsverträge zu respektieren.
Am 28. Oktober 1884 schloss Nachtigal mit Kapitän Josef Fredericks von Bethanien einen „Schutzvertrag“ in Südwestafrika. Darin wurden im Artikel 4 die durch einen „Meilenschwindel“ betrügerisch erworbenen Gebietsabtretungen vom Mai 1883 an den „deutschen Reichsangehörigen F.A.E. Lüderitz“ nachträglich festgeschrieben. Der von Adolf Lüderitz mit Kapitän Joseph Fredericks vom Volk der Name vereinbarte Kaufpreis hatte 200 alte Gewehre und 100 englische Pfund betragen. Berechnungsgrundlage für die Abtretungen war für Kapitän Fredericks die englische Meile mit ca. 1,6 km, für Lüderitz die deutsche Meile mit ca. 7,5 km gewesen. Frederick, der nur die englische Meile kannte, hatte damit unwissentlich ein um ein Vielfach größeres Territorium an Lüderitz abgetreten. Die Nama fühlten sich getäuscht, konnten sich mit ihrem Protest aber nicht durchsetzen. Bei der offiziellen Flaggenhissung am 7. August 1884 waren neben Kapitän Fredricks, Vertreter der Firma Lüderitz aus Bremen und die Besatzungen der Kreuzerfregatte „Leipzig“ und der Korvette „Elisabeth“ anwesend.
Insgesamt ließ Nachtigal 1884 und 1885 mehr als ein Dutzend Mal in West- und Südwestafrika im Zeichen der deutschen „Kanonenbootpolitik“ die Flagge des Deutschen Kaiserreichs hissen. 1885 wollte er im Jahre wegen seines schlechten Gesundheitszustands nach Deutschland zurückkehren. Bevor er die Heimat erreichte, starb er wenige Wochen nach dem Abschluss der Kongo- oder Westafrika-Konferenz, auf der in der Schussakte die Aufteilung Afrikas in Kolonien vereinbart wurde, am 20. April 1885 vor der Küste Guineas an Bord des Kanonenboots „Möwe“ an Malariafieber. Nachtigals Grab befindet sich seit 1888 in Douala (Kamerun), wohin ihn das Auswärtige Amt von Kap Palmas (Liberia) überführen ließ.
Vorweg muss gesagt werden, dass die schriftlichen Quellen aus dem Nachlass von Gustav Nachtigal bisher nur unzureichend erschlossen und noch nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten geprüft und ausgewertet sind. Der Großteil seiner hinterlassenen handschriftlich vorliegenden Schriftstücke ruht mit Ausnahme der dreibändigen Tagebücher über seine Reise durch die Sahara und den Sudan immer noch in verschiedenen Archiven. Daher sind nur wenige Details aus seinem Leben und zu seinen Ansichten zur deutschen Kolonialpolitik und zur afrikanischen Kultur bekannt. Insofern gebietet es schon die defizitäre Quellenlage, die Urteile über Gustav Nachtigal sorgsam abzuwägen.
Leben und Wirken von Gustav Nachtigal werden bis heute kontrovers diskutiert. Seine Persönlichkeit ist umstritten. Für die einen ist er ein hervorragender Wissenschaftler und Philanthrop, andere sehen ihn ihm einen Handlanger deutscher Kolonialverbrechen. Aktuell ist er in den Streit um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte geraten. Darin geht es um die Frage, ob die Symbole deutscher Kolonialherrschaft stehen bleiben oder entfernt werden sollten.
In ihrem Gutachten zur Umbenennung der Gustav-Nachtigal-Straße in Köln-Nippes aus dem Jahre 2023 empfiehlt die Afrikanistin Marianne Bechhaus-Gerst von der Universität Köln die Umbenennung der Straße. Dafür führt sie folgende Gründe an: Erstens habe Gustav Nachtigal wissenschaftlich und politisch die Kolonialpolitik des Deutschen Reichs aktiv unterstützt. Zweitens sei die Legitimierung betrügerisch erworbener Landrechte und der Abschluss betrügerischer „Schutzverträge“ mit Gewaltandrohung und Geiselhaft verbunden gewesen. Drittens stehe die Benennung der Gustav-Nachtigal-Straße für den Zusammenhang von Kolonialrevisionismus und Nationalsozialismus. In anderen Stellungnahmen zur Umwidmung wird Gustav Nachtigal eine Schlüsselfunktion bei der Errichtung der deutschen Kolonialherrschaft über die drei westafrikanischen Kolonien Togo, Kamerun und Deutsch-Südwestafrika zugesprochen. Als Wegbereiter des deutschen Kolonialismus trage er Mitverantwortung für die Verbrechen, die in den Kolonien begangen wurden. In der Umwidmungsdebatte zum Nachtigal-Platz in Berlin wird Gustav-Nachtigal zu den Persönlichkeiten gezählt, die den Afrikanern als brutale Eroberer gegenübertraten.
Der Berliner Historiker, Politikwissenschaftler und Afrikaforscher Ulrich van der Heyden zeichnet ein anderes Bild von Nachtigal. Er wendet sich ausdrücklich gegen jede Form einer politisch motivierten vorschnellen Verurteilung. Er führt an, dass sich Gustav Nachtigal nachweislich in privaten Gesprächen und Briefen über seine Tätigkeit als Regierungsbeamter kritisch geäußert hat. Allerdings richtete sich seine Kritik nicht gegen die Kolonisierung souveräner afrikanischer Herrschaftsgebiete durch das Deutsche Reich, sondern gegen die staatliche Förderung der privatwirtschaftlichen Interessen von hanseatischen Kaufleuten. Van der Heyden weist darauf hin, dass Nachtigal in seinen bisher nur buchstückhaft veröffentlichten Schriften philanthropische Ansichten vertreten hat. Er gibt sich darin als scharfer Kritiker des Sklavenhandels und der Auswüchse der Kolonialwirtschaft zu erkennen. Seine kritischen Äußerungen zur Lobby der deutschen Schnapsexporteure blieben auf politischen Druck aus Berlin unveröffentlicht. Abschließend kommt van der Heyden zu dem Urteil, dass Gustav Nachtigal zu den wenigen Persönlichkeiten der Forschungsgeschichte zählt, die den Afrikanern nicht als rassistische und brutale Eroberer entgegengetreten sind. Zwar hätten seine Forschungen – gewollt oder ungewollt – die Gründung des deutschen Kolonialreiches vorbereitet. Dabei sei es ihm aber zu keinem Zeitpunkt um Ausbeutung gegangen. Vielmehr habe sich Nachtigal stets für ein Zusammenwirken von Wirtschaft, Kultur, Mission und Handel ausgesprochen. Dazu passt, dass ihm von Befürwortern der deutschen Kolonialpolitik vorgeworfen wurde, über die Erforschung der islamischen Kultur Nordafrikas die Interessen der deutschen Export- bzw. Kolonialwirtschaft vernachlässigt zu haben.
Wie es in der Diskussion um die Person Gustav Nachtigal und die Umwidmung von Straßen, die seinen Namen tragen, weitergeht, bleibt abzuwarten. Die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawa von der Universität Gießen warnt vor übereilten Schritten:
„Wir sollten nicht eine Statue oder einen Straßennamen entfernen und dann denken, dass wir den Prozess der Dekolonialisierung beendet haben.“ [ZEIT-online v. 14.06.2020].
Auch Ulrich van der Heyen weist in seinem Beitrag „War Gustav Nachtigal wirklich der böse Kolonialist?“ auf die Gefahr hin, dass durch die Beseitigung von Namen die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus in Vergessenheit gerät.
In Deutschland gibt es außer in Essen-Gerschede weitere Straßen und Wege, die nach Gustav Nachtigal benannt sind: in Brandenburg an der Havel (Altstadt), Bremen-Walle, Delmenhorst, Euskirchen-Großbüllesheim, Herford, Kaiserslautern-Erfenbach, Kiel-Neumühlen, Koblenz-Pfaffendorfer Höhe, Köln-Nippes, Ludwigshafen, München-Neuhausen (seit 1925), Neustadt an der Weinstraße, Ravensburg (Gustav-Nachtigal-Weg), Völklingen und Wiesbaden. [Quelle: freedom roads]. In Stendal steht seit 1892 ein Denkmal zu Ehren von Nachtigal. Es wurde in DDR-Zeit und durch ein Stalin-Denkmal ersetzt. Seit 1992 steht es wieder auf seinem alten Platz. 2023 ist es mehrfach beschmiert worden.
Im „Afrikanischen Viertel“ in Berlin heißt der frühere Nachtigal-Platz seit 2002 Manga-Bell-Bell, benannt nach Widerstandskämpfern gegen die deutsche Kolonialherrschaft. In Hannover erfolgte 2010 die Umwidmung der Gustav-Nachtigal-Straße wegen der „Verstrickungen des Namensgebers in Verbrechen während der Kolonialzeit“ bereits 2010. In Mannheim-Rheinau-Süd wurde die Gustav-Nachtigal-Straße im Juli 2024 in Marco-Polo-Straße umbenannt. In Köln-Nippes ist im Juli 2024 eine Online-Abstimmung über die Umbenennung auf den Weg gebracht worden. Das Ergebnis steht noch aus. Die nach Carl-Peters und Lüderitz benannten Straßen sind bereits 1990 umgewidmet worden.
Franz Josef Gründges
Quellen
Wikipedia: Nachtigalplatz – Eine Welt Stadt Berlin / Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER) [Abgerufen am 06.09.2024].
Bechhaus-Gerst, Marianne: Gutachten zur Gustav-Nachtigal-Straße im Afrika-Viertel von Köln-Nippes (2013).
Priesner, Claus: „Nachtigal, Gustav“, in: Neue Deutsche Biografie 18 (1997), S. 682-684 (Online-Version – http://www.deutsche -biographie.de/pnd 118586173. html#ndbkontext) (Abgerufen am 06.03.2024).
Van der Heyden, Ulrich: Warum es falsch ist, den Namen Gustav-Nachtigal aus dem Stadtbild zu tilgen, in: Berliner Zeitung v. 20.02.2022.
Schutzvertrag mit Togo aus dem Jahre 1884. https://deutsche-schutzgebiete.de/wordpress/projekte/kolonien/togo/erster-schutzvertrag-togo-1884.
Van der Heyden, Ulrich: Artikel „War Gustav Nachtigal wirklich der böse Kolonialist?“, in: Allgemeine Zeitung vom 15.09.2022 [Die Allgemeine Zeitung ist ein deutschsprachiges Blatt, das in Namibia erscheint].
Hiebl, Manfred: Gustav Nachtigal. Reise nach Westafrika. [https://manfred-hiebl.de/reise/Westafrika/reise_nach_bagirmi.htm].
Briefe von Gustav Nachtigal im Leibniz-Institut für Länderkunde. Archiv für Geographie.
Nachtigal, Gustav: Sahara und Sudan, 3 Bände, Berlin; Leipzig, 1879-1889.