Gräb, Paul Pfr.

Paul Gräb – „Kunstpfarrer“ aus Borbeck

Manchmal stößt der Historiker auf Spuren und Zusammenhänge, mit denen er nicht gerechnet hat. Auf der Suche nach Informationen zum Pfarrer Dr. Erich Gräb von der evangelischen Kirchengemeinde Borbeck tauchte plötzlich der Name Paul Gräb auf. Bei der Nachschau kam heraus, dass es sich um den Sohn von Pfarrer Gräb handelt, geboren in Madang/Papua-Neuguinea) und aufgewachsen in Borbeck, das er 1941 wegen des Krieges verlassen hat. Immerhin zwanzig Jahre seines Lebens hat Paul Gräb, der sich später als „Kunstpfarrer“ einen Namen gemacht hat, in Borbeck verbracht. Es gibt gute Gründe, sich mit dem Leben dieses „Borbeckers“, der zum Schwaben wurde, eingehender zu befassen.

Die Jahre in Borbeck

Paul Gräb wurde am 17. Mai 1921 als viertes Kind des Missionars Ernst Gräb und seiner Ehefrau Minna, geb. Steinseifer, in Madang/Papua-Neuguinea geboren. 1922 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Der Vater übernahm 1928 an der Seite von Karl Schreiner eine Pfarrstelle in der Kirchengemeinde Borbeck. Paul Gräb engagiert sich bin der evangelischen Jugendarbeit. 1937 wird er aus der Hitlerjugend unehrenhaft entlassen, weil er sich weigerte, die Leitung des evangelischen Jugendkreises in Borbeck aufzugeben. Nach der Mittleren Reife arbeitet er in verschiedenen metallverarbeitenden Betrieben, zuletzt  bei der Friedrich Krupp AG in Essen. Von Februar bis Oktober 1940 leistete er den Reichsarbeitsdienst ab, direkt im Anschluss daran begann er eine kaufmännische Lehre in einer Lebensmittel-Großhandlung in Borbeck. Während des Reichsarbeitsdienstes erlitt er im Juli 1940 auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam einen schweren Unfall, der eine lebenslängliche traumatische Epilepsie nach sich zog.

Ausbildung, Studium, Familie

Im Mai 1941 wurde Paul Gräb zum Wehrdienst in den Innendienst eingezogen. Die Jahre 1941 bis 1943 verbrachte er als Soldat in Riga bei der Verpflegungsdienststelle Ost. Im Oktober 1943 wurde er wegen seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen entlassen. Von November 1943 bis April 1944 besuchte er die kaufmännische Berufsfachschule Neuwied, wo er seine spätere Ehefrau Johanna Lina Schauer kennenlernte. 1944 begann er ein Studium der Theologie an der Evangelistenschule Johanneum in Wuppertal-Barmen. 1947 heiratete er Johanna Lina Schauer, geboren 1926 in (Bad) Säckingen. 1948 kam der Sohn Wilhelm zur Welt, der später einen Lehrstuhl für praktische Theologie an der Humboldt Universität in Berlin innehatte, wo er 2023 gestorben ist. Die Tochter Elisabeth Gräb-Schmidt, geboren 1956 in Bad Säckingen, ist Professorin für Systematische Theologie in Tübingen mit Schwerpunkt Ethik. Die Tochter Hanna ist ebenfalls (Hochschul-) Lehrerin tätig gewesen. Sie verbringt den Ruhestand mit ihrem Mann Herbert Mühlenbrink in Leipzig. Sohn Jochen ist ein bekannter Maler. Er veranstaltet Workshops im Haus der Diakonie in Öflingen. Zeitweilig hatte er den Vorsitz der Hanna und Paul Gräb-Stiftung inne.

Leben und Wirken in Wehr-Öflingen

1956 zog die Familie ins südbadische Öflingen. Am 1. Advent 1956 hielt Paul Gräb hier seine erste Predigt. In der 600-Seelen-Gemeinde arbeitete Paul Gräb zunächst als Pfarrdiakon, organisierte den Bau einer Kirche, die 1957 eingeweiht wurde, und war ab 1959 Pfarrvikar an der Christuskirche in Öflingen. 1960 wurde das Pfarrvikariat dem Pfarramt Säckingen unterstellt. Ende 1964 zog die Familie Gräb von Säckingen ins neue Pfarrhaus in Öflingen. Noch vor dem Umzug nach Öflingen kümmerte sich Pfarrer Gräb um die Finanzierung der Kirchenglocken. Auf besonderen Wunsch seiner Frau Hanna organisierte er Kunstaustellungen zur Finanzierung einer Orgel. Dazu bereiste er den Bodenseekreis, um Künstler für das Projekt zu gewinnen. Bei der ersten Verkaufsausstellung im Jahr 1961 stellten so renommierte Künstler wie Max Ackermann, Otto Dix, Erick Heckel, HAP Grieshaber und viele andere in der Öflinger Kirche gemeinsam aus. Zwei Drittel des Verkaufserlöses gingen an die Künstler, ein Drittel ging an die Kirchengemeinde. Bei den Ausstellungen 1962 und 1965 waren unter anderem Horst Antes und Günter Uecker vertreten.

Aus den Erlösen konnte 1965 eine neue Orgel angeschafft werden, sehr zur Freude der Organistin Hanna Gräb. Moderne Kunst neben Altar und Kanzel – dieses von Paul Gräb initiierte und sowohl von der Landeskirche als auch von Kunsthistorikern positiv aufgenommene Modellprojekt – ist als „Dialog von Kunst und Kirche“ in die Kunstgeschichte eingegangen. Der Erlös der weiteren Ausstellungen floss in die Errichtung eines Diakoniezentrums für Seniorinnen und Senioren, eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung sowie einer Sozialstation.

Zu diesem Zweck wurde 1967 unter der Leitung von Pfarrer Gräb der Diakonieverein Öflingen gegründet. 1985 konnte das Haus der Diakonie Wehr-Öflingen eingeweiht werden. Finanzielle Unterstützung bekamen und bekommen die Einrichtungen durch die Hanna und Paul Gräb-Stiftung, gegründet im Jahre 2006. Schirmherr und Mitglied im Stiftungsrat ist die Violinistin Anne-Sophie Mutter. Zweck der Stiftung ist die Förderung des Dialogs zwischen Kunst, Kirche und Diakonie. 2006 wurde der Lothar Späth-Förderpreis für malende Künstler mit geistiger Behinderung ins Leben gerufen. Bis zu seinem Tod 2016 überreichte Späth den Preis persönlich, seit 2017 hat Anne-Sophie Mutter diese Aufgabe übernommen. Nach zwanzig Jahren ging Pfarrer Gräb im Mai 1979 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand. Am 18. Februar 2019 ist der „begnadete Bettler“ und „Menschenfischer“ in Bad Säckingen gestorben. Seine Frau folgte ihm im März 2022.

Anne-Sophie Mutter über Hanna und Paul Gräb

Anne-Sophie Mutter hat lobende Worte zum Lebenswerk von Hanna und Paul Gräb gefunden. Besonders eindrücklich sind ihre Würdigung im Buch „Netze-Hanna und Paul Gräb. Ein Lebenswerk“:

„Die unvergleichliche Beharrlichkeit, gepaart mit Mut und Leidenschaft, mit der Hanna und Paul ihre Vision eines Hauses der Diakonie über Jahrzehnte verfolgte, liegt sicherlich auch in ihren Jugend-Erfahrungen begründet. Sie haben im Dritten Reich als junge Menschen miterleben müssen, wie Behinderte als „unnütze Esser“ und „unwertes Leben“ – so die offiziellen Bezeichnungen – beschimpft, aus den Wohlfahrtseinrichtungen abgeholt und ermordet wurden. Für Hanna und Paul dagegen ist das Leben behinderter Menschen eine Vergegenwärtigung von Gottes Ebenbild – eine menschliche Ausdrucksform unter vielen. Und diese Verschiedenheit der Menschen nehmen sie als persönliche Herausforderung an, ihnen respektvolle Lebensumstände zu sichern.“ [Netze, Vorworte, S. 9].

Auszeichnungen und Ehrungen

Der Ehrenbürger der Stadt Wehr erhielt im Laufe seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, darunter das Bundesverdienstkreuz am Bande (1973 ) und den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg (1994). In Wehr-Öflingen gibt es eine Straße, die nach ihm benannt ist. Seine Frau Hanna wurde erhielt das Goldene Kronenkreuz der Diakonie (1983) und das Bundesverdienstkreuz (1999).

Paul Gräb über sein Kunstverständnis

Über sein Verständnis, zeitgenössische Kunst mit diakonisch-sozialem Engagement zu verbinden, hat sich Paul Gräb im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Andreas Mertin so geäußert:

„Wir lernten so, dass ein Bild sich nicht auf irgendeine Weise als im besonderen Sinne christlich oder religiös ausweisen muss, um einen Auftrag der Kirche am Menschen wahrnehmen zu können. Wir lernten, dass, insofern uns im Bild Kunst begegnet, wir zu einer Auseinandersetzung herausgefordert werden, die alle Versuche überspielt, eine christliche Kunst gegen eine nichtchristliche Kunst auszuspielen.“ [Zitiert bei A. Mertin].

Nachruf von Anne-Sophie Mutter

Anne-Sophie Mutter (*1963), die in Wehr aufgewachsen ist, wo man einen Weg nach ihr benannt hat, hatte eine persönliche Beziehung zu Pastor Gräb. Er war ihr Taufpfarrer. Für ihn und seine Projekte hat sie regelmäßig Benefizkonzerte gegeben. Von ihr stammt der Nachruf:

„Mit tiefer Bestürzung und Traurigkeit habe ich vom Tod Paul Gräbs erfahren. Paul war nicht nur wegen seiner Arbeit für behinderte Menschen ein Fixstern in meinem Leben. Seit meiner Taufe im Jahr 1968 war er mein Schutzengel, der ich an allen Weggabelungen des Lebens erwartete und begleitete – immer von einer tiefen Menschlichkeit beseelt und der ihm eigenen couragierten Wahrhaftigkeit.“ [Zitiert bei A. Mertin].

FJG

Quellen:
Netze – Hanna und Paul Gräb. Ein Lebenswerk, modo-Verlag, Freiburg im Breisgau 2012.
Mertin, Andreas: Paul Gräb (1921-2019) in Memoriam. In: Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, Heft 18, 2019. – https://www.theomag.de/118/am66.htm (abgerufen am 20.02.2025).

Bild oben: Buchcover „NETZE – Hanna und Paul Gräb – Ein Lebenswerk„: 2012. Hg: Hanna und Paul Gräb-Stiftung, Anne-Sophie Mutter, Arabella Wunderlich, Richard Wunderlich. ... Bernd Petri, Christiane Vielhaber.

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