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0 25.03.2025
Der Verbund „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gehört einem gesellschaftlichen Netzwerk an, das sich bewusst gegen jede Form von Diskriminierung, Gewalt und Mobbing wendet. Dabei ist jedes Mitglied der Schulgemeinde – Schüler, Eltern, Lehrer – aufgefordert, ein Schulklima zu schaffen, in dem „anders sein“ als Normalfall akzeptiert wird. Mehrere Borbecker Schulen – die Gesamtschule Borbeck und die Geschwister-Scholl-Realschule – gehören diesem Netzwerk an.
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Auch das Gymnasium Borbeck erhielt – im Jahr 2017 - das Siegel als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ und setzt damit eine lange Tradition fort. Denn im Verlauf seiner mehr als 120jährigen Geschichte haben sich zahlreiche Persönlichkeiten des Gymnasiums Borbeck außergewöhnlich für die Vermittlung von Toleranz als unabdingbare Aufgabe der Erziehung eingesetzt und dabei in schwierigen Zeiten Zivilcourage bewiesen. Zu ihnen zählt in besonderer Weise Wilhelm Vollmann, der das GymBo von 1923 bis 1949 geleitet hat. Vor genau 70 Jahren starb Wilhelm Vollmann. Aus Anlass seines Todes widmete ihm das Kollegium „gymnasii Borbeckensis“ auf lateinisch eine Laudatio:
Übersetzung des lateinischen Textes: „In Erinnerung an Wilhelm Vollmann. Das Lied, dass man unten gedruckt sieht, wurde in Schönschrift auf eine Glückwunschkarte für den Direktor Wilhelm Vollmann geschrieben, sechs Monate, bevor er aus seinem Amt schied, und ihm mit Zustimmung der Kollegen gewidmet. Um einen bestimmten Teil des Liedes richtig zu verstehen, erinnere man sich daran, dass die Jungen des Borbecker Gymnasiums, als das Gebäude noch nicht erneuert war, im Haus beim Berzelius-Grundstück unterrichtet wurden. Das Lied wurde herausgegeben, um zu zeigen, wie sehr die Kollegen ihren toten Direktor geschätzt hatten und noch schätzen. Sie bedauerten sehr, dass die am Ende des Liedes geäußerten Wünsche infolge seines Todes zwar nicht voreilig, aber sicher unerwartet ihren Zweck verfehlt haben." (Dank an Dr. Nikolaus Mantel), Bild: Gymnasium Borbeck
Einer, der dieses Gedenken als Schüler authentisch bezeugen konnte, war Rolf Becker. Er studierte Germanistik und Philosophie und schlug dann die journalistische Laufbahn ein. Sie führte ihn zum Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, für das er bis zu seiner Pensionierung als ein bundesweit angesehener Literaturkritiker arbeitete. Zu seinem persönlichen Hintergrund: Rolf Becker – geboren 1928 - war seit 1938 Schüler des Gymnasiums Borbeck, von dem er von den Nationalsozialisten als sogenannter „Halbjude" zum Jahreswechsel 1942/1943 verwiesen wurde. Da ihm der Schulbesuch verboten war, erhielt er von Wilhelm Vollmann Privatunterricht. Ihn würdigte er 1997 bei seinem 50jährigen Abiturjubiläum im Gebäude an der Prinzenstraße wie folgt:
„Zu der Handvoll Menschen, die mir (und meiner Mutter) damals in unserer ziemlich aussichtslosen Lage beistanden, die uns ein bisschen Halt und Hoffnung gaben, zu diesen Menschen gehörte Wilhelm Vollmann. Er bot mir an, mir Privatstunden zu geben, damit ich, wenn es mit dem Krieg und dem Dritten Reich einmal ein Ende haben würde, ohne allzu viele Versäumnisse in die Schule zurückkehren könnte. So kam ich also an bestimmten Tagen in seine Wohnung, hier nebenan in der Prinzenstraße, und wurde dort von ihm, mehr gesprächsweise als frontal, in Latein und einigem anderen unterrichtet, wurde von ihm mit der einen oder anderen Lektüre versorgt und auch, kaum weniger willkommen, mit dem einen oder anderen Butterbrot.“
Rolf Becker fuhr dann fort:
„Dieses Gymnasium Borbeck war kein Hort, geschweige denn eine Hochburg nationalsozialistischer Indoktrination. Für die Erziehung in jener Ideologie, die sich als ´Weltanschauung` brüstete und nichts als ein mörderischer Humbug war, hat diese Schule nicht viel geleistet. Braunes Gedankengut – so weit man in diesem Zusammenhang von Gedanken sprechen kann – und braunes Brauchtum kamen hier nicht so zum Zuge, wie das Regime es sich wünschte.“
Rolf Beckers Erfahrung war nach dem Krieg eine der Grundlagen für eine wissenschaftliche Studie über Schulen im Dritten Reich. Zur Erlangung der universitären Lehrbefähigung konzipierte nämlich der Erziehungswissenschaftler Professor Bernhard Stelmaszyk im Jahr 2002 seine Habilitationsschrift. Dazu wertete er an der Prinzenstraße archivierte Prüfungsakten und andere Dokumente aus. Die Ergebnisse dieser Arbeit belegen unmissverständlich, wie der damalige Schulleiter Wilhelm Vollmann seine Ermessensspielräume im Einsatz gegen gesellschaftliche Ausgrenzung konsequent nutzte und die Schule im Rahmen seiner Möglichkeiten vor dem Einfluss der Nationalsozialisten schützte.
Titelblatt Habilitation, Universität Mainz
In den 1970er- und 1980er-Jahren erlebte Altschüler und WAZ-Redaktionsleiter Frank Stenglein das Gymnasium Borbeck als „hochpolitische Schule“, an der sich „die gesellschaftlichen Großkonflikte in einem wahrscheinlich sogar überdurchschnittlichen Maße abbildeten.“ Folge: „Friedens-, Umwelt- und Dritte-Welt-Bewegung“ prägten in dieser Zeit das schulische Leben.
In diesem gesellschaftlichen Umfeld entfaltete sich beispielsweise auch das Bewusstsein für eine Aufarbeitung deutscher Vergangenheit weiter. Schulen begannen, eine Bestandsaufnahme ihrer schulischen Aktivitäten vorzunehmen, diese aufeinander abzustimmen und in so genannte Schulprogramme einmünden zu lassen. Auf diese Weise wurden am Gymnasium Borbeck als pädagogische Grundorientierung das anlassunabhängige schulische Handeln gegen Gewalt und Rassismus in einer Präambel festgeschrieben. In diesem Sinn wurde eine verstärkte Öffnung der Schule nach außen und damit die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern angestrebt.
Im Geist dieser programmatischen Zielsetzung wurde die Kooperation mit der Stadt Essen weitergeführt: Diese lud seit 1980 ehemalige Essener Bürger jüdischen Glaubens in ihre Heimatstadt ein und förderte die Begegnungen mit jungen Schülerinnen und Schülern. Unter den Gästen: Walter Rohr. Fünfzig Jahre nach Kriegsende betrat er 1995 in Begleitung seiner Tochter wieder deutschen Boden. Auf dem Besuchsprogramm stand ein Gespräch mit Mädchen und Jungen seiner alten Schule an der Prinzenstraße, die er in der NS-Zeit wegen seines Glaubens vorzeitig verlassen musste. Die Flucht in die USA folgte.
Walter Rohr traf auf eine Klasse von ausgeprägter Sozialkompetenz und versehen mit einem klaren Blick für Recht und Unrecht. Diese Fähigkeiten erleichterten einen einfühlsamen Umgang mit dem emotional hochbelasteten Gast aus Amerika.
Walter Rohr in der Klasse, Bild: Borbecker Nachrichten
Bild (v.l.) Sabrina Conradshaus, Alexandra Mayr, Katja Walldorn, Fotos: privat
Sabrina Janisch, heute Conradshaus, und Alexandra Mayr waren 1995 dabei. Auf dem historisch gewordenen Photo sieht man die beiden Mädchen am Tisch direkt vor Walter Rohr. Dreißig Jahre später fassen sie heute ihre Eindrücke von der Unterrichtsstunde mit Walter Rohr zusammen:
Sabrina Conradshaus: „Herrn Rohr habe ich als sehr sympathischen und lustigen Menschen in Erinnerung. Zudem weiß ich noch, dass ich von seiner Geschichte gefesselt und beeindruckt war, während ich gleichzeitig eine unheimliche Wut und Abscheu den Nazis gegenüber empfand.“
Die Begegnung mit Walter Rohr betrachtet Alexandra Mayr als „Privileg“ und fordert, dass gerade in der heutigen Zeit die Lebensgeschichten von Zeitzeugen niemals in Vergessenheit geraten dürfen. Deshalb muss – so Alexandra Mayr - unsere Gesellschaft ihre Kinder für das NS-Unheil mit seinen Gräueltaten sensibilisieren: „So etwas darf nie wieder passieren.“ Diese Erfahrung weiterzugeben ist deshalb ein vordringlicher Auftrag, der sich ihre Klassenkameradin Katja Walldorn anschließt. Bei der Umsetzung dieses Auftrags kann sie sogar im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit mitwirken. Denn am Elbe-Gymnasium Boitzenburg im Länderdreieck Niedersachsen, Mecklenburg und Schleswig-Holstein unterrichtet sie als Oberstudienrätin. Da das Elbe-Gymnasium wie das Gymnasium Borbeck dem Schulverbund „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ angehört, schließt sich im Kampf gegen Rassismus der Kreis zwischen Borbeck und der Elbe.
Abschließende Frage: „Welche Eindrücke hat eigentlich Walter Rohr von seinem Unterrichtsbesuch am Gymnasium Borbeck mit nach Amerika genommen?“ Seine Antwort ist eindeutig: „Es war der Höhepunkt meines Aufenthalts in Essen.“
Zur Erinnerung an sein bewegtes Leben wird eine Arbeitsgemeinschaft des Gymnasiums Borbeck die Ergebnisse der Schülerrecherchen in Kürze der Öffentlichkeit vorstellen.
Wolfgang Sykorra
Quellen
Rolf Becker: „Dank an eine Schule in Vorkriegs, Kriegs- und Nachkriegszeit. Aus der Rede zum Jubiläum der Abiturklasse 1947.“ In: Borbecker Nachrichten vom 27. März 1997.
Borbecker Nachrichten vom 21. September 1995.
lks.nrw.de „schule-ohne-rassismus-schule-mit-courage“ – abgerufen am 12. März 2025.
Gymnasium Borbeck (Hrsg.): 50 Jahre Gymnasium Essen-Borbeck. Städtisches neusprachliches Gymnasium mit naturwissenschaftl. Zweig i. E., Essen 1955.
Gymnasium Borbeck (Hrsg.): Schulprogramm (im Bestand des Stadtarchivs Essen).
Bernhard Stelmaszyk: Rekonstruktionen von Bildungsgängen preußischer Gymnasiasten sowie der zugehörigen Lehrergutachten aus Reifeprüfungsverfahren der Jahre 1926 –1946 der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz als Habilitationsschrift vorgelegt. Mainz 2002.
Frank Stenglein: „Eine Schule im Spiegel der Zeit. Das Gymnasium Borbeck schöpft mit einer opulenten Chronik aus dem Vollen.“ In: Neue Ruhr Zeitung, Lokalausgabe Essen, vom 21. Oktober 2005.
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