"Hier nehmen sies von den Lebenden von den Todten kriegen sie nichts"

"Wie einst im Mai": Ein Briefwechsel von Eheleuten anno 1910 - eine Serie von Reinhilde Willwerth und Susanne Hölter

0 21.05.2021

111 Jahre alt ist der Briefwechsel zwischen Adam und Anna Theisen. Der Kruppianer weilte zur Kur in Bad Nauheim, seine Frau versorgte zu Hause die sieben Kinder. Liebe und Fürsorge sprechen aus den Briefen. Trotz großer finanzieller Not und Sorge um die Gesundheit Adams spürt man keine Bitterkeit. Ein Bettnachbar stirbt plötzlich in der Kurklinik. Vielleicht waren es der Massagen und Sprudelbäder zu viele? Aber auch Alltägliches aus der Zeit um 1910 erfährt man aus den Briefen. Wie die mondäne Welt eines Kurbades ausgesehen hat, wie sich die Kinder entwickeln (Bild oben zeigt die sechs Mädchen und den Jungen) , wie man daheim Pfingsten feierte – und, dass das Wetter an den Feiertagen nicht anders war als heute. Der Briefwechsel aus dieser Zeit wird hier Wort für Wort wiedergeben - mit allen orthografischen Eigenheiten. Familienfotos stammen aus der Sammlung Reinhilde Willwerth.

Essen d. 10.5.1910

Lieber Gatte und Vater!

Deinen l. Brief haben wir am Sonntag morgen gerade beim Kaffeetrinken erhalten u. unsere Anna war noch am Schlafen aber als die Pfennige zum Vorschein kamen da gings aber eins, eins Anna wecken und im Nu war Anna zur Stelle ihren Pfennig in Empfang zu nehmen, eine größere Freude kannst Du ihnen besonders Jettchen nicht machen. Die Karten sind aber auch schön besonders die eine an mich auch ich versetzte mich gleich in unsere Jugendzeit zurück es war auch zu schön.

Heute Morgen bin ich eben bei deiner Mutter gewesen, sie gab mir 2 Mk die sollt ich Dir schicken ich habe noch 1 MK dazu gethan. Aber Franz hat sich gefreut über die Zeppelinskarte u. er wird richtig zur Stelle sein um den Brummer in Empfang zu nehmen. Ich muß dir noch mittheilen daß ich jetzt an der Krankenkasse deine neue Nummer 40364 angeben muß.

Wie freue ich mich aber für Dich mit daß Du es wenigstens in Betreff des Essens so gut angetroffen hast, wie ist es denn sonst im Stift mußt Du Dir auch die Stiefel selber putzen u. waschen hast Du auch schon gelernt, so dann geht es ja wenn Du dann wieder bei uns bist, dann wirst Du mir wohl künftig helfen nicht wahr, lieber Schatz!

Ich habe heute Morgen Eppgen getroffen u. gefragt, wie es wäre mit der Unterstützung er meinte das würde wohl nichts mehr geben weil Du freie Verpflegung hättest u. ich mein volles Krankengeld bekäme so würde das verrechnet aber er meinte er wolle mal sehen.

Unser Adele ist bei ihrer Lehrerin vorstellig geworden ob sie mal in Ferien-Kollonie könnte kommen. Die Lehrerin sagte sie hätte Adele schon aufgeschrieben, sie solle nur ein Attest vom Doktor bringen, nun will ich denn am Donnerstag mit ihr zu Grimm gehen, denn morgen Mittwoch gehe ich nach Werden.

Christine ist doch am Sonntag zu Fuß mit nach Hardenberg gegangen u. da haben die Pilger gleichzeitig in Werden dem Grabe des hl. Ludgerus ihren Besuch gemacht, es hat ganz gut gegangen sie war gar nicht müde geworden.

Wie ist das Wetter bei Euch in Nauheim? Hier ist es bald den ganzen Tag am regnen u. noch kalt dabei. Wie wir Deine Karten erhalten und gelesen hatte da sagte ich auch Frau Miebach so jetzt geht es, jetzt ist der Vater richtig in seinem Element er fangt an u. macht Witze. Jetzt aber zum Schluß denn es geht auf elf Uhr an u. morgen früh muß ich früh zur Stelle sein denn um sieben zieht die Prozession von der Münsterkirche aus.

Hoffen daß Du recht wohl und munter bist was ich dir von uns aus auch berichten kann grüßt und küßt dich recht herzlichst

Deine Frau u. Kinder

 

Nauheim den 13. Mai 1910

Euren lieben Brief habe ich erhalten. Er hat zwar lange auf sich warten lassen, aber er kam doch. Es freud mich deshalb, das ihr noch alle gesund und munter seid, was ich auch von mir sagen kann.

Ich hatte mir deßhalb schon Gedanken gemacht. Die drei Mark habe ich bekommen. Ich gäbe aber 10 drum wenn du ein paar Stunden jetzt hier wärest. Da kans du jetzt mahl was sehen, so was hast Du aber noch nicht gesehen. Die Stadt-Mode: eines noch schöner wie d. anderen.

Waschen und Stiefelputzen verdiene ich mir selbsz. Wenn ich in der Stadt wäre hätte ich Geld zu wenig, da rechnet alles auf Trinkgeld. Wenn sich die Kranken mahl was extra machen lassen zum Essen, zum Beispiel Kakao mit ein Eierkuchen kostet das 80 extra. Hier nehmen sies von den Lebenden von den Todten kriegen sie nichts.

Neben mir ist einer gestorben von Dortmund. Sitzt auf der Bettkant rollt herüber und ist todt. Ohne Sang und Klang ins Loch.

Ich werd hoffentlich bis zum 7. Juni hier bleiben, bekomme aber danach 3-4 Wochen Schonung. Deßhalb ist es mit der Unterstützung nicht so eilig.

Ich habe nach Onkel Johan eine Karte geschrieben, das hatte ich nicht vergessen, ich weiß seine Hausnummer nicht. Ich habe bis jetzt 18 Karten verschickt. Aber nur von Elberfeld Antwort erhalten.

Ich wünsche Euch alle ein fröhliches Pfingstfest und schicke Euch im Brief 50 Pfg. mit. Da könnt Ihr Euch Kuchen für kaufen, u. laßt Euch den gut schmecken. Ich bekomme jetzt Sprudel Bäder a 2 Mark 10. Wenn man im Wasser ist so sieht man aus als wenn man bereift wäre. Den ganzen Körper voll Blasen. Das ist die Kohlensäure welch drin ist, und dann soll ich jetzt noch jeden Morgen masiert werden von den Zehen angefangen bis zum Kopf von vorn und von hinten. Warum: damit man nicht zu dick und zu fett wird, sagt mein Arzt. Jede Massage kostet auch 1 M. Es wird aber noch erst bei der Kranken Kasse angefragt werden ob die das noch bewilligen. Es werden noch einige Tage vergehen, bis ich Dich darüber berichten kann.

Sind die Mädchen noch artig oder muß ich ein Stock mitbringen, hoffendlich doch noch nicht. Denn nur artige Kinder bekommen was. Ich will schließen aber noch an Fränzchen berichten, das ich gestern Morgen ein Engeländer geholfen habe beim Fischen und hatte das Glück einen Karpfen von 10 ½ Pfd. zu fangen und ich bekam eine feine Zigarre dafür. Ich habe 2 Nester mit jungen Vögel, ich bin 2 Tage nicht dabei gewesen gehe aber früh hin. Es grüßt Euch vielmals

Gruß an alle Bekannten und Verwandten. Laßt es euch Pfingsten gut schmecken. Es ist ¼ 7 Abends. Auf zu Tisch, essen!

Dein Mann und euer Vater Adam Theisen

Essen d. 19.5.1910

Lieber Gatte und Vater!

Sehr erfreut waren wir über Deinen l. Brief und daraus erfahren, daß es dir noch immer gut geht u. Du dich auch noch immer gut amüsierst u. nicht langweilst, aber auch freuen wir uns daß Du schon bald wieder zu uns zurückkehrst.

Gespannt bin ich ob die Krankenkassen die Massage bewilligt u. wie Dir das bekömmt ob Du das wohl aushalten kannst

Das Wetter war am ersten Feiertag erst Morgens schön dann gegen elf Uhr hatten wir ein Gewitter mit tüchtig Regen bis ein Uhr Nachmittags war es nachher ganz schön. Samstag nachmittag hatten wir auch ein schweres Gewitter. Am zweiten Feiertag war das Wetter herrlich, da bin ich ja mit Adele, Maria, Franz und Lenchen Roth morgen schon um ½ 6 auf nach Werden um ½ acht waren wir da da direkt in die Kirche u. in die Krypta zur Verehrung des hl. Ludgerus, die ganzen Gebeine waren noch zu sehen, wohl erhalten dann wieder zurück in die Kirche eine hl. Messe gehört u. dann Kaffe getrunken um neun Uhr wieder reisefertig zum Spaziergang von Werden zurück zut Kruppschen Fähre u. da das Nachenfahren besehen auch ein Dampfer fuhr die Ruhr entlang dann weiter die Ruhr nach gegangen schließlich waren wir in Heisingen wieder zurück aber einen anderen Weg zum Isenberg, dann zurück nach Essen über Rellinghausen kommend bei Schloss Schellenberg aus waren gegen vier Uhr wieder glücklich zu Hause. Auf dem Isenberg trafen wir Familie Michel Leister, viele herzliche Grüße von denselben. Morgens trafen wir in Werden vor der Brücke den Herrn Wonda auch er läßt Dich vielmals grüßen.

Gestern Nachmittag war Frau Wolf hier bei mir auch sie läßt Dich vielmals grüßen. Deinen l. Brief am Samstag brachte Jettchen mir herauf und sagte ein Brief von Papa auch ein Pfennig für Jettchen drin aber wie waren wir erstaunt als die 50 Pfg. drin waren für Kuchen, wie ist der Vater doch gut auch daran denkt unser Papa, wie freuen wir uns aber auch, daß die Trennung nicht mehr so lange dauert. Lebe wohl u. sei recht herzlich gegrüßt und geküßt

von Deiner Frau und Kindern

Gruß von Maria, Herzlichen Gruß von Christine, Gruß von Deiner Tochter Adele, Gruß Franz, Gruß Anna, Lieber Papa Gruß Jettchen

Aber gestern Morgen war eine Freude unser Lisbeth war reich wie ein König, jedem zeigt es die Karte.

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