Vor 100 Jahren: Von unsichtbaren Eiern und fliegenden Fischen auf dem Markt

Kein Mord, sondern Körperverletzung mit Todesfolge: Frau wandert dreieinhalb Jahr ins Gefängnis

0 20.09.2023

Kriegsfolgen, Ruhrbesetzung und Hyper-Inflation - 1923 war für die leidgeprüfte Bevölkerung vor allem im Revier ein schwarzes Jahr. Wir bringen in loser Folge Kurznachrichten aus der Zeit vor hundert Jahren, die damals in zeitgenössischen Zeitungen erschienen.

Lohnraub in Uniform

Essener Allgemeine Zeitung (EAZ), Mittwoch, 19. September 1923. Besatzungsnachrichten. Dienstag früh wurden in Essen durch französische Kriminalbeamte Gelder in Höhe von etwa 750 Milliarden Mark, die zur Auszahlung an die Erwerbslosen bestimmt waren, beschlagnahmt. Infolgedessen konnten die vorgesehenen Auszahlungen an die Erwerbslosen nicht durchgeführt werden. Tags zuvor hatte eine Erwerbslosenversammlung stattgefunden, in der von der beabsichtigten Auszahlung eines größeren Betrages Mitteilung gemacht worden war.

Gutscheine werden zu Schlechtscheinen

EAZ, 19. September 1923. Es muss als eine Rücksichtslosigkeit bezeichnet werden, wenn die Privatunternehmungen, die mit behördlicher Erlaubnis Notgeldscheine herausgegeben haben, jetzt ganz kurzfristig ankündigen: vom . . . des Monats verlieren die Scheine ihre Gültigkeit. Es ist sogar vorgekommen, dass Werke (Harpener Bergbau AG) am 15. September und in manchen Zeitungen erst am 17. September bekanntgeben, dass ihre Gutscheine am 15. September eingelöst sein mussten. Wir haben die Behörden, die sich beim Publikum für die Annahme der mannigfachen Geldscheine eingesetzt haben, wiederholt aufgefordert, rechtzeitig für die Errichtung von Sammelstellen in den einzelnen Gemeinden zu sorgen, damit die Besitzer der Gutscheine nicht eines Tages Besitzer von Schlechtscheinen sind und sich als die gutgläubig Betrogenen fühlen müssen. Leider sind bisher keine Vorkehrungen getroffen.

Neue Briefmarken mit astronomischen Werten

EAZ, Donnerstag, 20. September 1923. Neue Überdruckmarken im bisherigen Muster stellt die Reichsdruckerei jetzt für die Gebührenerhöhung der Post am 20. September her. Ausgegeben werden Marken zu 250.000 Mark auf der Freimarke zu 25 Mark mit den Landarbeitern, zu einhunderttausend Mark auf der kleinen Freimarke zu 400 Mark in der Ziffernausgabe hellgrün, zu 125.000 Mark auf der kleinen Freimarke zu 1000 Mark in der Ziffernausgabe hellrot, 250.000 Mark auf der kleinen Ziffernmarke zu 500 Mark rosa (...)

Eier waren unsichtbar

Essener Wochenmarkt am 19. September 1923. Seit dem Samstagsmarkt sind die Preise größtenteils um das Doppelte und mehr gestiegen. Die Zufuhr war nicht allzu reichlich. Kartoffeln waren zu wenig vorhanden, so dass wieder lange Menschenreihen an den zwei oder drei Ständen stundenlang auf die Abfertigung warten mussten. Auch die übrigen Stände, besonders diejenigen, an denen Pflaumen feilgeboten wurden, waren stark belagert. Schwächer veranlagte Käuferinnen versuchten vergeblich, sich zur Geltung zu bringen. Manche musste unverrichteter Sache wieder abziehen. Butter und Eier waren unsichtbar. In Geschäften kosteten Eier 5 Millionen Mark je Stück. Dass ein Meter Maschinengarn bereits 80.000 Mark kostet, wird manchem unglaublich erscheinen.

Briefumschläge aus Tausendmarkscheinen

EAZ, Freitag, 21. September 1923. Welche Blüten die Geldentwertung treibt, geht aus einer Mitteilung des Hannoverschen Anzeigers hervor. Das Blatt erhielt einen Brief, dessen Umschlag aus drei 1000-Mark-Scheinen und zwei 500-Mark-Scheinen kunstvoll zusammengeklebt war. Er kostete also, trotzdem es ein noch größer als die gebräuchlichen Geschäftshüllen war, nur 4000 Mark, während sich jetzt ein solcher Umschlag aus einigermaßen gutem Papier auf mindestens 25.000 Mark stellt. Die Anschrift war auf der hellen Rückseite der 1000-Mark-Scheine deutlich lesbar und der Brief war deshalb auch von der Post anstandslos befördert worden.

Grausiges Verbrechen vor Gericht

EAZ, Samstag, 22. September 1923. Der Schonnebecker Mordprozess. Das grausige Verbrechen, das am Morgen des 6. April die Bevölkerung der Gemeinde Schonnebeck bei Katernberg in hochgradige Aufregung versetzte, beschäftigte gestern das Essener Schwurgericht.

Am Nachmittag des 5. April war der 50 Jahre alte Bergmann Heinrich Schier in seiner Wohnung hinterrücks von seiner Haushälterin Katharina Plate mit dem Beil erschlagen worden. Die Mörderin zog die Leiche in ein Nebenzimmer und verweilte in der Wohnung bis zum folgenden Morgen, dann gab sie den Anverwandten des Getöteten Nachricht von der furchtbaren Tat, die in die Wohnung des Erschlagenen eilten und die Täterin verhaften ließen (...)

Die Beratung der Geschworenen nahm kaum 20 Minuten in Anspruch. Sie hatte ein überraschendes Ergebnis. Die Geschworenen verneinten nicht nur die Frage nach Mord, sondern auch nach Totschlag und bejahten die Hilfsfrage nach Körperverletzung mit Todesfolge. Sie billigten der Angeklagten obendrein noch die mildernden Umstände zu. Demnach lautete das Urteil auf 3 Jahre 6 Monate Gefängnis.

Nach Attentat: Straßenbahnen lahmgelegt

Verkehrssperre in Essen Stadt und Land. Infolge einer Explosion, die am Donnerstag Abend gegen 10 Uhr auf der Bahnstrecke Rüttenscheid - Heißen in der Nähe der Brandsmühle vorgekommen ist, wurde über Stadt- und Landkreis Essen eine Verkehrssperre verhängt. Die Explosion hat das südliche Gleis der Bahnstrecke in einer Länge von 3 Meter aufgerissen und einen Bruch in 30 cm Länge herbeigeführt. Die Verkehrssperre gilt für die Kreise Essen Stadt und Land für 8 Tage, für den übrigen der 77. französischen Division unterstellten Teil für 4 Tage, und zwar für die Zeit vom 22. September von 6 Uhr morgens ab. Das Verbot betrifft in Essen Linie 6 und 8 und Linie 1, 3, 12 15.

Böse Folgen des Notgeldwirrwarrs

Die Buntheit unserer papierenen Zahlungsmittel, deren äußerer Umfang oft im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Nominalwert steht, hat schon vielfach zu Unzulänglichkeiten geführt. Ein besonderes Missgeschick passierte gestern einem Schaffner der Linie 2, der gegen 6 Uhr nachmittags einem Herrn einen 200-Millionen-Schein der Firma Krupp anstelle eines 20-Millionen-Scheins herausgab. Der betreffende Herr, der dunklen Anzug und dunklen Paletot sowie dunkelgrünen Hut trug und am Rathaus Rüttenscheid ausstieg, wird gebeten, den Betrag, den der Schaffner aus seinem Einkommen ersetzen muss, der Straßenbahn zuzustellen.

160 Millionen Mark Lohn pro Schicht

EAZ, Sonntag, 23. September 1923. Die neuen Löhne im Bergbau. Der Durchschnittstariflohn der Löhne für den Kohlenbergbau in der Lohnwoche vom 17. bis 24. September beträgt einschließlich des Hausstands- und Kindergeldes für den Ruhrbergbau 160 Millionen Mark, für den oberschlesischen Steinkohlenbergbau 120 Millionen Mark, für den sächsischen Steinkohlenbergbau 112 Millionen Mark und für die Kernreviere des Mitteldeutschen Braunkohlenbergbaues 108 Millionen Mark je Schicht.

Fliegende Fische auf dem Wochenmarkt

Essener Wochenmarkt vom 22. September 1923. Der Dollar ist gefallen, von seinem schwindelnden Stand um die 200 Millionen herum ist er am Freitag auf 110 Millionen abgerutscht. Viele Marktbesucherinnen glaubten deshalb am Samstag, für ihre bunten Scheine etwas mehr heimbringen zu können als vom Mittwochsmarkt, der unter dem Zeichen des 150-Millionen-Dollars stand. Dieser Glaube wurde bitter getäuscht. Das Fleisch beispielsweise hat den umgekehrten Marsch gemacht. Es ist um 50 von Hundert gestiegen, Butter hat um 25 von Hundert angezogen, Schellfisch und Rotbarsch sind zu fliegenden Fischen geworden. Sie sprangen von 7 auf 15 Millionen. Die Kartoffeln wurden auf dem Markte mit 800.000 Mark verkauft, also 100.000 Mark teurer als am Mittwoch.

Krabben im Polizeigewahrsam

EAZ, Dienstag, 25. September 1923. Beschlagnahmtes Diebesgut. In Gewahrsam der Essener Kriminalpolizei befinden sich folgende Gegenstände, die Dieben und Hehlern abgenommen und von der Polizei beschlagnahmt worden sind: Ein Posten Kinderwäsche, Damenhemden, Damenhosen, Kopfkissen, Betttücher, ein Ballen bunt gestreifter Blusenflanell, ein blauer Kammgarnanzug, 2 Damenfahrräder, 5 Herrenfahrräder, 8 Büchsen Milch, vier Büchsen Krabben, eine Büchse Tomatenmark. Die rechtmäßigen Eigentümer können sich während der Vormittagsstunden zwischen 8 und 11 Uhr beim 1. Kriminalkommissariat in der Hedwigschule melden.

Zur Abbildung ganz oben: 20 Millionen oder 200 Millionen? Im September 1923 geht der Überblick verloren. Astronomische Summen und immer mehr buntes Notgeld, das dann auch noch von einem Tag auf den anderen für wertlos erklärt wird, verwirren die Leute. (Sammlung A. Eickholt)

Quelle: Haus der Essener Geschichte / www.zeitpunkt.nrw - zusammengestellt und bearbeitet von Andreas Eickholt

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