Vor 100 Jahren: Gelsenkirchen soll 100 Millionen Mark Buße zahlen

Besatzer verbieten Erscheinen der Essener Volkszeitung für die Dauer von 14 Tagen

0 08.03.2023

Kriegsfolgen, Ruhrbesetzung und Hyper-Inflation - 1923 war für die leidgeprüfte Bevölkerung vor allem im Revier ein schwarzes Jahr. Wir bringen in loser Folge Kurznachrichten aus der Zeit vor hundert Jahren, die in der damals weit verbreiteten Essener Volkszeitung erschienen.

Was in der zweiten Hälfte des Februar sich zugetragen hat

Essener Volks-Zeitung, 5. März 1923. Die erzwungene Unterbrechung in der Herstellung der Zeitung macht es uns zur Pflicht, einen Überblick über die wichtigsten Ereignisse in der Durchführung der "französischen Friedensmission für das Ruhrgebiet" zu geben.

Obenan steht Gelsenkirchen, wo wegen eines Angriffs auf einen französischen Offizier der Stadtgemeinde eine Buße von 100 Millionen Mark auferlegt wurde. Die Stadtverwaltung weigerte sich, dem völkerrechtlich unberechtigten Strafbefehl nachzukommen. Infolgedessen rückten zwei Regimenter französischer Truppen in die Stadt ein. Eine größere Zahl Beamten wurde verhaftet, darunter der Oberbürgermeister und sein Stellvertreter.

Der vorläufige Höhepunkt der Skandalchronik ist jetzt in Bochum erreicht worden. Am 24. Februar abends kam eine Abteilung franz. Soldaten vor die Handelskammer angerückt. Die angrenzenden Straßen wurden mit Maschinengewehren abgesperrt, und die Soldaten drangen in das Innere der Kammer ein. Dort haben sie alles, was sie vorfanden, geraubt. Das Ganze bietet jetzt einen wüsten Trümmerhaufen.

Blutiger Zwischenfall mit Panzerwagen

EVZ, 5. März 1923.

Das französische Panzerautomobil 56 227 kam heute mittag kurz nach 12 Uhr in schneller Fahrt durch die Unterführung am Hauptbahnhof in der Richtung nach der Stadt und fuhr mitten in die Menge, die sich anlässlich der Besetzung unseres Hauptbahnhofs dort angesammelt hatte. Drei Personen, ein Erwachsener und zwei Knaben, kamen unter den Koloss, vor dem die Menge schreiend auseinanderstob. Die drei Überfahrenen wurden eine Strecke weit geschleift. Alle drei wurden blutüberströmt in das Huyssenstift getragen.

Franzosen besetzen Bahnhöfe

Heute morgen zwischen 6 und 7 Uhr wurde der Bahnhof Kray-Nord und der Essener Hauptbahnhof von den Franzosen besetzt. Die Franzosen rückten mit Panzerwagen und Truppen auf Lastautos heran und umstellten die umfangreichen Essener Bahnhofsanlagen. Sie drangen in die Stellwerke, den großen Lokomotivschuppen, in die Güterabfertigung und die Eilabfertigung ein und sperrten jeden Verkehr. Der D-Zug 1 nach Berlin wurde zurückgehalten.

Behörden verbieten Demo der Kommunisten

Der für Samstag angesagte Demonstrationszug der Kommunisten gegen Unterbindung der Pressefreiheit und Ausplünderung der Arbeiter ist von der Besatzungsbehörde verboten worden.

Militärjustiz fällt harte Urteile

Das Dienstmädchen Elly Schulz aus Rüttenscheid soll eines abends ein französisches Plakat abgerissen haben. Es bestreitet diese Beschuldigung entschieden und gibt an, an das Plakat herangetreten zu sein, um es zu lesen. Da es zum Teil herunterhing, will die Angeschuldigte es festgehalten haben. Dabei sei das Plakat vollends von der Wand gefallen. In diesem Augenblick sei ein Franzose hinzugekommen. Urteil: 10000 Mark Geldstrafe.

Schupos entwaffnet

Die in den Segerothbaracken untergebrachten Schupobeamten wurden gestern unter starkem militärischen Aufgebot entwaffnet. Das Barackenlager in der Hammerstraße wurde um 7 Uhr früh von einem Regiment Infanterie mit einem Obersten und einem General an der Spitze mit 22 Tanks umstellt. Die Polizei wurde zur Abgabe der Waffen aufgefordert, wozu sie sich nach längeren Verhandlungen entschloss. Die 400 Mann zogen gruppenweise mit ihren Offizieren an der Spitze ab. Der Stadtverwaltung wurde vorgeschlagen, eine städtische Wehr von 600 Mann zu bilden.

Tagespresse verboten

Die Essener Tagespresse ist jetzt in ihren sämtlichen Ausgaben verboten gewesen oder noch verboten. Am 13. Februar wurde die "Rheinisch-Westfälische Zeitung", die "Essener Allgemeine Zeitung" am 16., die "Essener Volkszeitung" am 18., der Essener Anzeiger am 25., das "Ruhr-Echo" am 28. Februar und die "Essener Arbeiterzeitung" am 1. März verboten.

Auch die Essener Volkszeitung kann erst am 24. März wieder erscheinen.

Auf 40 Mark war das Porto für eine einfache Postkarte im März 1923 gestiegen. Das war 800-mal so viel wie vor dem Weltkrieg. Ein kleines Beispiel, das die rasante Geldentwertung deutlich macht.

Vom 19. Februar bis 5. März 1923 verstummt die Essener Volkszeitung. Grund ist ein Verbot des Blattes durch die Besatzer. Erst Ende März erscheint die Zeitung wieder regelmäßig.

Quelle: Haus der Essener Geschichte / www.zeitpunkt.nrw - zusammengestellt und bearbeitet von Andreas Eickholt

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 9 plus 7.