Vor 100 Jahren: Essen dankt den Niederlanden für Hilfe in der Not

Und ein kurioser Todesfall macht von sich Reden: Mann verhungerte trotz großer Lebensmittelvorräte

0 06.09.2023

Kriegsfolgen, Ruhrbesetzung und Hyper-Inflation - 1923 war für die leidgeprüfte Bevölkerung vor allem im Revier ein schwarzes Jahr. Wir bringen in loser Folge Kurznachrichten aus der Zeit vor hundert Jahren, die damals in zeitgenössischen Zeitungen erschienen.

Kumpels fahren wieder an

Essener Allgemeine Zeitung (EAZ), Dienstag, 4. September 1923. Die Regierung hat sich von der Notwendigkeit eines Eingreifens in die Bergarbeiterfrage überzeugt und das Reichskommissariat mit weitgehenden Vollmachten zur Beilegung der Zwistigkeiten betraut. Ein Schiedsspruch wurde im Laufe des Montagnachmittags erwartet.

Am Montag sind fast alle Belegschaften angefahren, und zwar diejenigen der Zechen Beust, Hercules, Gottfried Wilhelm, Schnabel, Ludwig, Gustav (teilweise). Die Belegschaft der Zeche Hagenbeck ist noch ausständig, von Gustav arbeiten 783 unter und 213 Mann übertage.

Über die ganze Angelegenheit wird uns noch folgender Rückblick gegeben: Die durch die rapide einsetzende Markentwertung stark verminderten Löhne riefen in der Bergarbeiterschaft bald eine Unzufriedenheit hervor, die dazu führte, dass eine Resistenzbewegung einsetzte, indem die Bergarbeiter wohl zur Arbeitsstelle erschienen, aber keine produktive Arbeit leisteten.

Ein Milliardär an Unterernährung gestorben

EAZ, Dienstag, 4. September 1923. Am Montagmorgen wurde von der Polizei in Gegenwart eines Vertreters des Beerdigungsinstituts Heimkehr sowie der Hausbewohner das Zimmer des 48 Jahre alten unverheirateten Postschaffners August Ringerhahn, Wiesenstraße 12, gewaltsam geöffnet. Der Postschaffner saß tot auf einem Stuhl. Er war entweder an Unterernährung gestorben oder vom Tod so jählings überrascht worden, dass er nicht mehr imstande war, in das völlig verwahrloste Bett zu gelangen.

Den Beamten und Hauseinwohnern bot sich ein sonderbarer Anblick. Über dem Bett hingen 3 Speckseiten und eine ganze Reihe Dauerwürste. Konserven von Fleisch, Würstchen, Gemüse, Obst waren in Fülle vorhanden, sie waren kistenweise aufgereiht. Der Vorrat an Kau- und Rauchtabak reicht noch jahrelang. Eine große Kiste Streichhölzer, die Schachtel mit dem Preise von 5 und 6 Pfennigen ausgezeichnet, konnte von einem Mann kaum gehoben werden. Der Zugang zum Bett war mit Säcken voll Kartoffeln und Kohlen verbaut. In 8 Säcken war zentnerweise altes getrocknetes Brot aufbewahrt. In einem großen Glasschrank waren Unmengen von Haferflocken usw. von Würmern total zerfressen. Ein geräumiger Glasbehälter enthielt Eier über Eier.

Dem Postschaffner wird im Dienste nichts vorgeworfen. Er war so fleißig, dass er schon morgens 4 Uhr die Buden auf dem Großmarkt aufschlug und sich Nebenverdienst verschaffte. In seiner Wohnung wurde außer einem silbernen Essbesteck eine goldene Uhr gefunden. Außerdem wurden 1310 Goldmark in 10- und 20-Mark-Stücken entdeckt sowie Wertpapiere, deren heutiger Milliardenbestand erst festgestellt werden muss. Der arme Milliardär hinterlässt eine Schwester in Zittau. Auch das Kind einer verstorbenen Schwester dürfte an der Erbschaft beteiligt sein.

Schuh-Raub auf Wolfsbank

EAZ, Mittwoch, 5. September 1923. Von einem wild aufgestellten Aktionsausschuss der Belegschaft Schacht Wolfsbank in Essen-Borbeck sind mehrere Fuhrwerke mit Lebensmitteln und Schuhwaren auf der Straße angehalten und auf den Zechenplatz gebracht worden. Die Lebensmittel wurden zum Teil sofort an die Belegschaftsmitglieder gegen Abnahme der Markennummer ausgegeben. Schuh- und Textilwaren, der Sterkrader Kaufmannschaft gehörend, sind teilweise geraubt. Es fehlen sämtliche Herrenstiefel und ein Ballen Herrenanzugstoffe. Die Rädelsführer wurden teilweise verhaftet.

Wieder Tote nach Pilzmahlzeit

Der Genuss giftiger Pilze hat in Essen 3 Opfer gefordert. Mehrere Personen hatten im Bredeneyer Walde Pilze gesucht. Unmittelbar nach dem Genuss der zubereiteten Pilze erkrankten 3 erwachsene Personen und starben kurz darauf an den Folgen von Pilzvergiftung. Auch mehrere Familienangehörige, die von den Pilzen gegessen hatten, sind erkrankt. Es besteht aber Hoffnung, sie am Leben erhalten zu können. Dieser bedauerliche Fall gibt Veranlassung, wiederum ernstlich auf die Gefahren hinzuweisen, die dadurch entstehen, dass Unkundige Pilze suchen und sie ohne Kenner zu Rate gezogen zu haben, zubereiten.

Die neuen Straßenbahnfahrpreise. Von heute an kosten auf der Essener Straßenbahn eine und 2 Teilstrecken 300.000, 3 und 4 Teilstrecken 500.000, 5 und 6 Teilstrecken 700.000 Mark.

Langenbrahm von Panzern besetzt

EAZ, Mittwoch, 6. September 1923. Die Zeche Langenbrahm wurde gestern nachmittag 3 Uhr von 2 Abteilungen Infanterie und 2 Panzerautos besetzt. Die Belegschaft trat abends 8 Uhr in einen Proteststreik. Die Notstandsarbeiten werden fortgesetzt. Die Truppen haben die Kohlenhalde mit einem Stacheldrahtzaun umgeben.

Es gibt wieder Eier

Essener Wochenmarkt am 5. September 1923. Die Zufuhr hat sich seit Samstag wieder erheblich verbessert. Alle Stände waren reich beschickt, es gab auch wieder Eier. Vergeblich suchten wir nach Preiselbeeren, die übrigens in der Umgebung Essens zur Hälfte des am Samstag geforderten Essener Preises verkauft wurden und noch werden. Es herrschte rege Kauflust und das Notgeld in seiner bunten Mannigfaltigkeit wurde allgemein willig genommen. An einem Stande gab es allerdings eine Ausnahme, dort wurde das Gemüse nur gegen Reichsgeld abgegeben. Die Käufer sollten in solchem Falle eine fest geschlossene Gemeinde bilden und derartige Anforderungen durch Kaltstellung des Händlers beantworten.

Preise je Pfund: Rindfleisch 2 bis 3 Millionen, Schellfisch 5 Millionen, Rotkohl 150.000 und 180.000 Mark, Zwiebeln 250.000 Mark (...)

60 Milliarden plötzlich futsch

EAZ, Freitag, 7. September 1923. Wie bei anderen Werken haben die Franzosen nun auch bei der Kruppschen Gussstahlfabrik in Essen begonnen, Bestandsaufnahmen zu machen. Die Arbeiter und die Beamtenschaft haben es abgelehnt, irgendwelche Hilfe hierbei zu leisten. - Auf dem Wege zum Rathause in Essen wurde den Beamten der Stadt von Besatzungsbeauftragten eine Summe von 60 Mrd Mark in Notgeldscheinen fortgenommen.

Essen dankt den Niederlanden

Zum 25-jährigen Regierungsjubiläum der Königin von Holland stattete der geschäftsführende Oberbürgermeister der Stadt Essen, Beigeordneter Baasel, dem Konsul der Niederlande einem Besuch ab und überbrachte die Glückwünsche der Stadt Essen.

An die Königin von Holland wurde folgender Glückwunsch gedrahtet: "Die Stadt Essen gedenkt am morgigen Jubiläumstage des holländischen Volkes mit besonderer herzlicher Dankbarkeit der verständnisvollen und wirksamen Hilfe, die holländische Bürger der Stadt in schwerer Zeit geleistet haben."

Polizei macht Jagd auf Wucherer

EAZ, Samstag, 8. September 1923. Wucherbekämpfung im Monat August. Die rheinisch-westfälische Wucherzentrale beim Polizeipräsidium in Essen hat im Monat August 236 neue Anzeigen wegen Vergehens gegen die allgemeinen Wucherbestimmungen erstattet und den Staatsanwaltschaften übergeben, und zwar 152 Anzeigen wegen Preistreiberei, 65 wegen Vergehens gegen die Preisschilderverordnung, 9 wegen Schleichhandels, 3 wegen unerlaubten Großhandels, 8 wegen Kettenhandels und eine wegen unerlaubten Arzneimittelhandels. Beschlagnahmt wurden im Monat August wegen Verdachts der Zurückhaltung vom Verkauf 162 Herren und Burschenanzüge, rund 280.000 Zigaretten, 600 Liter Cognac, 20 Zentner Mehl, 20 Zentner Schmierseife, 13 Zentner Margarine und 98 Kartons Zwieback.

Student zum Tode verurteilt

EAZ, Sontag, 9. September 1923. Das französische Kriegsgericht in Düsseldorf hat gestern den Studenten Richard Rabe, der am 4. August eine Handgranate auf französische Soldaten geworfen hat, zum Tode verurteilt. Bei diesem Attentat sind 3 französische Soldaten und 5 deutsche Zivilpersonen verwundet worden.

Sonntagshuhn bleibt ein schöner Traum

Essener Wochenmarkt am 8. September 1923. Der Dollar, der am Dienstag noch auf 11 Millionen Mark stand, hatte sich bis Freitag um das Fünffache erhöht und die Wochenmarktpreise machten krampfhafte Anstrengung, dem Amerikaner zu folgen.

Glücklicherweise geht es aber hierbei nicht mit derselben Geschwindigkeit. Die Preise müssen sich immerhin durch die Einkommensverhältnisse der Käufer drosseln lassen, andernfalls würden nur die vom Glück Begünstigten in der Lage sein, die allernötigsten Nahrungsmittel zu erschwingen. Das Sonntagshuhn ist schon lange eine verklungene Mär, denn es kostet heute schon 15 Millionen Mark. Selbst ein anständiger Eierkuchen kann am Sonntag kaum noch auf den Tisch gebracht werden, wo für das Ei 600.000 Mark verlangt werden.

Ein Glück, dass die Fischlieferungen wieder eingesetzt haben, so konnte die Hausfrau doch wenigstens einige Pfund gesunder kräftiger Nahrung erstehen, die für den immer noch zahlbaren Preis von einer Million Mark in tadellos frischer Ware angeboten wurde.

Zum Bild oben: Von der Eisenbahndirektion am Bismarckplatz aus kontrollierten die Besatzungstruppen die wichtigsten Strecken im besetzten Revier. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf dem Abtransport von Kohle und Koks. Hunderte deutsche Eisenbahner und ihre Familien mussten ihre Wohnungen teils fluchtartig verlassen und Platz für französisches Personal machen. (Postkarte Sammlung A. Eickholt)

 

Quelle: Haus der Essener Geschichte / www.zeitpunkt.nrw - zusammengestellt und bearbeitet von Andreas Eickholt

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte addieren Sie 1 und 7.