Vor 100 Jahren: Bürgermeister wegen Sabotage vor Gericht

Besatzer verbieten Erscheinen der Essener Volkszeitung für die Dauer von 14 Tagen

0 22.02.2023

Kriegsfolgen, Ruhrbesetzung und Hyper-Inflation - 1923 war für die leidgeprüfte Bevölkerung vor allem im Revier ein schwarzes Jahr. Wir bringen in loser Folge Kurznachrichten aus der Zeit vor hundert Jahren, die in der damals weit verbreiteten Essener Volkszeitung erschienen.

Ausweisungen und Autofallen

Essener Volkszeitung, Donnerstag, 15. Februar 1923.

Die Ausweisungen reißen nicht ab. Jetzt ist man auch bei der städtischen Verwaltung angelangt. Bürgermeister Schäfer, der in Vertretung des abwesenden Oberbürgermeisters Dr. Luther die Verwaltungsgeschäfte führt, ist Mittwoch morgen früh, 7 Uhr, in seiner Wohnung verhaftet und nach Bredeney geschafft worden. - Mittwoch morgen wurde der Direktor Bußmann vom RWE durch ein größeres Truppenaufgebot verhaftet. - Die Franzosen fahren fort, Autos zu beschlagnahmen. An verschiedenen Stellen sind Autofallen eingerichtet. Seile sind über die Straße gespannt oder die Straße durch Fuhrwerke gesperrt. - Die Franzosen haben Sonntag morgen um 7 Uhr den kaufmännischen Direktor der Zeche Zollverein, Herrn Rudolf Lattau, verhaftet und ausgewiesen. Die Angestellten und Arbeiter der Zeche sind daraufhin am Montag in einen Proteststreik eingetreten.

Zug-Verzicht fürs Vaterland

Die Reichseisenbahnverwaltung erwartet von dem vaterländischen Sinn der Bevölkerung, dass sie die von den Franzosen betriebenen Strecken in keiner Weise, weder zur Personen- noch zur Güterbeförderung benutzt. Die Reichsbahnverwaltung übernimmt überdies keinerlei Haftung für die fremde Betriebsführung, die, wie bekannt, außerordentlich unsicher und gefährlich ist.

Verlagshaus Girardet besetzt

Die Besatzungsbehörde hat die "Essener Allgemeine Zeitung" auf Grund von Artikeln, die die Würde und Ehre der Besatzungstruppen verletzt haben sollen, verboten. Eine Abteilung von etwa 80 franz. Soldaten besetzte den Haupteingang des Verlagshauses Girardet und ließ niemand mehr hinein. Der gesamte Betrieb musste binnen einer halben Stunde geräumt werden.

Keine fettgebackenen Waren mehr

Die Konditoreninnung hat beschlossen, dass in Fett gebackene Waren nicht mehr hergestellt werden dürfen. - Es ist dringend zu wünschen, dass auch die Delikatessengeschäfte in ihren Schaufenstern der Notlage mehr Rechnung tragen. Die üppige Zurschaustellung von allerhand kulinarischen Dingen, die sich die heimische Bevölkerung nicht mehr leisten kann, muss unterbleiben.

Bajonette und Fußtritte gegen Passanten

Freitag, 16. Februar 1923.

Heute mittag gegen 12 Uhr wurde die Reichsbankstelle in Essen von einer Abteilung Soldaten besetzt. Eine kleine Menschenmenge sammelte sich auf dem Platz vor dem Kaiserhof an. Durch eine in Nebenhäusern bereitgehaltene weitere Abteilung wurde daraufhin der Platz geräumt. Obgleich die wenigen Passanten der Aufforderung zur Räumung sofort und ohne Widerstand nachkamen, wurden sie mit Bajonetten und Fußtritten von den französischen Soldaten misshandelt. - Das gewaltsame Eindringen der Franzosen in Gastlokale und Lebensmittelgeschäfte wurde heute fortgesetzt.

Panzer vor dem Theater

Seit Dienstag durchfahren zahlreiche Panzerautos die Straßen der Stadt. Gegen 4 Uhr fuhren die Panzerautos zum Theaterplatz. Eine große Anzahl Soldaten drang ins Innere des Theaters ein. Im Rathaus wurde das elektrische Licht ausgeschaltet. Gleichzeitig ist die Telephonzentrale besetzt.

Bürgermeister wegen Sabotage vor Gericht

Samstag, 17. Februar 1923.

In dem Saal der Wirtschaft Götte (Ecke Bredeneyer Straße und Meisenburgstraße) begannen heute morgen die Verhandlungen gegen den 1. Bürgermeister Schäfer von Essen und verschiedene weitere Personen, die in den letzten Tagen wegen "Sabotage und Nichtbefolgung franz. Befehle" verhaftet worden waren. Da die Sitzung öffentlich war, hatte sich zahlreiches deutsches Publikum eingefunden. Vor dem Pressetisch hat ein halber Zug franz. Infanterie mit aufgepflanztem Bajonett Aufstellung genommen, auch die Ausgangstür ist mit bewaffnetem Militär besetzt.

Schießerei auf der Altendorfer Straße

Freitag nachmittag gegen 2 Uhr kam es in der Altendorfer Straße zu einem Zusammentoß zwischen einem Schupobeamten und zwei franz. Offizieren. Der Schupobeamte hatte von einem der Offiziere einen Schlag mit der Reitpeitsche ins Gesicht erhalten, worauf der Schupobeamte seinen Revolver zog und auf den Offizier einen Schuss abgab, der ihn schwer verletzte.

Polizeipräsidium besetzt und entwaffnet

Das Kommando der französischen Besatzungstruppen hat heute mittag nicht nur sämtliche Quartiere der Schutzpolizei räumen lassen und die gesamten Waffen beschlagnahmt, sondern auch das Polizeipräsidium unter einem großen Truppenaufgebot mit Panzerautomobilen besetzt. Sämtliche Beamten mussten das Gebäude verlassen und ihre Waffen abgeben.

Franzosen drohen mit Wohnungsverlust

Die Franzosen ergreifen weitere und schärfere Maßnahmen, um den Eisenbahnverkehr zu militarisieren. An den militarisierten Strecken sind die Eisenbahner aufgefordert worden, unter franz. Befehl zu arbeiten. Bei Weigerung sollen die Dienstwohnungen innerhalb von 24 Stunden geräumt werden.

Kanal durch versenkte Kähne gesperrt

Sonntag, 18. Februar 1923.

Duisburg-Ruhrort. Den Franzosen war es gelungen, den Schleusenbetrieb des Rhein-Herne-Kanals zu übernehmen, und in den letzten Wochen sind wiederholt Kohlenschiffe mit holländischer Besatzung zum Rhein verschleust worden. In der vergangenen Woche sank an dem wichtigsten Verkehrspunkte ein großer Lastkahn. Von der Mastspitze weht eine schwarz-weiß-rote Fahne. Auch am Stinneshafen sank ein Kohlenschiff, so dass der ganze Betrieb auf dem Rhein-Herne-Kanal eingestellt werden musste. Wie Fachleute behaupten, werden die Arbeiten zur Beseitigung der Verkehrshindernisse wenigstens drei Wochen dauern.

Nach Eisenbahnunglück: Warnung vor "Fremdzügen"

Düren. Hier ist es gestern wieder zu einem Eisenbahnunfall gekommen, der durch einen von belgischen Eisenbahnern gefahrenen Zug hervorgerufen ist. Mehrere belgische Soldaten sind dabei getötet und eine Anzahl verwundet worden. Im Hinblick auf die zahlreichen, in den letzten Tagen vorgekommenen Eisenbahnunfälle auf den militarisierten Strecken wird die Bevölkerung zu ihrer eigenen Sicherheit der von landfremden Eisenbahnern gefahrenen Züge gewarnt.

Vom 19. Februar bis 5. März 1923 verstummt die Essener Volkszeitung. Grund ist ein Verbot des Blattes durch die Besatzer. Erst Ende März erscheint die Zeitung wieder regelmäßig.

Quelle: Haus der Essener Geschichte / www.zeitpunkt.nrw - zusammengestellt und bearbeitet von Andreas Eickholt

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