Vor 100 Jahren: Alle Waren rationiert - verhärmte Käufer mussen warten

Erwerbslosenrat fordert für jeden Erwerbslosen, damit er seinen nackten Körper bedecken kann, 10 Meter Hemdentuch, 3 Meter Anzugsstoff und billige Schuhe

0 02.08.2023

Kriegsfolgen, Ruhrbesetzung und Hyper-Inflation - 1923 war für die leidgeprüfte Bevölkerung vor allem im Revier ein schwarzes Jahr. Wir bringen in loser Folge Kurznachrichten aus der Zeit vor hundert Jahren, die damals in zeitgenössischen Zeitungen erschienen.

Der Liter Bier zu 40000 Mark

Essener Allgemeine Zeitung (EAZ), Mittwoch, 1. August 1923. Die hiesige Preisprüfungsstelle hat nach Vereinbarung mit den Wirte- und Verbrauchervertretern für den Stadt- und Landkreis Essen vom 1. August 1923 ab folgende Richtpreise für Bier festgesetzt: Lagerbier ein Zwanzigstel Liter 2250 Mark, am Schalter je Liter 40000 Mark. Exportbier ein Zwanzigstel Liter 2900 Mark, am Schalter je Liter 52000 Mark. Spezialbier ein Zwanzigstel Liter 3400 Mark, am Schalter je Liter 60000 Mark. Diese Preise gelten nur für das Bier, welches zu den von den Brauereien zuletzt festgesetzten Preisen erworben worden ist. Höhere Preise dürfen nur mit Genehmigung der Preisprüfungsstelle gefordert werden.

Für den Vier-Stunden-Tag und billige Schuhe

EAZ, 1. August 1923. Von dem "Erwerbslosenrat" wurde der Stadtverwaltung folgender Antrag gestellt: Die am 27. Juli stattgefundene Vollversammlung der Erwerbslosen und Notstandsarbeiter beantragen bei der Stadtverwaltung eine vierstündige Arbeitszeit bei achtstündiger Bezahlung. Die Stadtverwaltung ist dadurch in der Lage, Hunderten von Erwerbslosen Arbeit zu verschaffen bei Einlegung von 3 Schichten pro Tag.

Da die Not von Tag zu Tag größer wird, die Gegenmaßnahmen jedoch durch die Behörden nicht in genügendem Maße erfolgen, sind die Behörden für alles, was geschehen wird, verantwortlich. Wir bitten die Stadtverwaltung, um diesen Übel ein Ende zu machen, unsere erstgenannten Forderungen anzuerkennen. Außerdem stellen wir der Stadtverwaltung anheim, jedem Erwerbslosen, damit er seinen nackten Körper bedecken kann, 10 Meter Hemdentuch, 3 Meter Anzugsstoff, billige Schuhe zu verabreichen.

Ferner fordern wir Stundung der Gasrechnung, Einstellung der Mietsrechnungen, Belieferung der Erwerbslosen mit Kohlen und Kartoffeln.

Lage wird jeden Tag schlimmer

EAZ, Donnerstag, 2. August 1923. Die Lage im Industriegebiet wird von Tag zu Tag, ja fast von Stunde zu Stunde, ernster.

Infolge der französischen Grenzvorrichtungen und Bestimmungen wird der Grenzverkehr immer mehr beschränkt. Neue Stempel auf Pässe werden nur in seltenen Fällen bewilligt. Waren kommen nur in geringer Menge oder gar nicht ins besetzte Gebiet, infolgedessen haben sehr viele Geschäfte ausverkauft. Diese Läden sind ganz geschlossen.

Weiterhin wirkt die ungeheuerliche Mark-Entwertung katastrophal, die Preise werden täglich erhöht und sind unerschwinglich. Die Geschäfte öffnen nur stundenweise, alle Waren werden rationiert und die vielfach verhärmten Käufer müssen wieder in Reihen anstehen.

Die Märkte sind sehr schlecht beschickt und die wenige Ware kann wegen der nominell hohen Forderungen von den Käufern nicht bezahlt werden. Männer und Frauen ziehen in Scharen durch die Straßen und suchen in den Läden das zum Leben Notwendige zu erhaschen.

Die Erwerbslosen stellen immer höhere Forderungen. Die Moral vieler junger Leute, die zum Nichtstun gezwungen sind, leidet außerordentlich. Die seit Jahren auf der Lauer liegenden Elemente wittern Morgenluft und möchten die Gelegenheit der allgemeinen Not benützen, um ihre sauberen Pläne endlich durchzuführen. Demgegenüber muss man erwarten, dass der besonnene Teil der Arbeiterschaft wie der gesamten Bevölkerung Ruhe bewahrt und unverantwortliche Taten meist jugendlicher und haltloser Existenzen Widerstand entgegensetzt.

Stets möge man daran denken, dass das gesamte deutsche Volk von Unruhen keine Besserung seiner Lage erhoffen kann, sondern sie darüber hinaus vielmehr den Fremden sehr willkommen sein dürften, die dann zweifellos ihr Ziel, die Niederreißung des passiven Widerstandes, erreicht sehen und an einem weiteren Markstein ihres politischen Strebens angelangt wären. Trotz aller Schwierigkeiten hat die Ruhrbevölkerung bisher mit Würde ihr schweres Los getragen. So soll es auch ferner bleiben.

SVR-Chef ohne Begründung festgenommen

EAZ, 2. August 1923. Der Präsident des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk Mülhens wurde zusammen mit Oberregierungsrat Fritze von den Franzosen in dem Dienstgebäude festgenommen und zum Kohlensyndikat gebracht, die Angabe von Gründen für die Festnahme fehlt bisher.

4 Billionen täglicher Bedarf an Zahlungsmitteln

EAZ, 2. August 1923. Der durch den ungeheuren Marktsturz verursachte außerordentliche Bedarf an Zahlungsmitteln, der seit einigen Tagen von der Reichsbank nicht voll befriedigt werden konnte, hält unverändert an. Er beträgt täglich 4 Billionen gegen 800 Milliarden vor dem Ansturm. Die Reichsbank wird vor Samstag nicht in der Lage sein, diesen Bedarf zu befriedigen. Gestern war es allerdings bereits möglich, 3 Billionen Mark in Ein- und 5-Millionen-Scheinen herauszubringen. Dadurch dürften, wie man in Berlin hofft, nicht nur in Berlin, sondern auch in der Provinz die Schwierigkeiten beseitigt werden, wenn nicht ein neuer Marktsturz erfolgt.

Borbecker Unhold erwischt

EAZ, 2. August 1923. In der letzten Zeit trieb auf dem Friedhof neben dem Philippusstift in Borbeck ein unbekannter Mensch sein Unwesen, der spielende Mädchen an sich lockte. In einem Falle wurde er von einer in der Nähe weilenden Frau überrascht. Er ergriff die Flucht und entkam unerkannt. Den wochenlang fortgesetzten Nachforschungen der Kriminalpolizei ist es endlich gelungen, den Unhold zu ermitteln. Es handelt sich um den Schlosserlehrling Joseph W., einen jungen Burschen im Alter von 15 Jahren. Er wurde festgenommen und dem Gerichtsgefängnis eingeliefert.

Rhabarberkartoffeln

(Für die Frau) Dieses würzige säußerlich-süße Gericht schmeckt ausgezeichnet und ist rasch bereitet. Dazu kocht man Kartoffeln und Rhabarber gesondert weich, wobei man die meiste Säure des Rhabarbers durch Beifügen von etwas doppeltkohlensaurem Natron mildert. Dann fügt man den Rhabarber den abgegossenen geschälten Kartoffeln bei, zerstampft sie zu dicklichem Gemüse und schmeckt es mit etwas Zucker, Pfeffer und gebratenen Zwiebeln kräftig ab. Ist Speck oder Schweinefleischbrühe vorhanden. so wird das Gericht ganz besonders schmackhaft.

Mit 750 PS nach London

Neues aus aller Welt. Ein Lastflugzeug von London nach Köln. Der erste reine Last-Aeroplan mit einer Ladung Tabak hat seine erste Reise von London nach Köln angetreten. Das Flugzeug hat 2 Motore von zusammen 750 Pferdekräften und vermag eine Vierteltonne Last mit einer Geschwindigkeit von etwa 90 englischen Meilen in der Stunde zu befördern. Es soll regelmäßig auf der Strecke London-Köln in Dienst sein. Zwischen seinen beiden Propellern befindet sich ein großer bedeckter Laderaum.

Foxtrott zu Händels Trauermarsch

EAZ, Samstag, 4. August 1923. "The Blues" heißt eine neue Form des Foxtrott, die diesen Tanz ein wenig vereinfacht und von Amerika aus ihren Siegeszug nach der alten Welt angetreten hat. Dieser "Blaue Trott" wird bereits in England und Frankreich getanzt und zeichnet sich durch einen etwas verschiedenen Rhythmus aus. Sein Erscheinen wurde auf dem Kongress der englischen Tanzlehrer in London feierlich angekündigt und zugleich betont, dass man ihn zu jeder beliebigen Musik tanzen kann.

"Die Jazzmusik ist tot", sagte einer der Redner. Tanzmusik sei jetzt viel ruhiger geworden und es genügten schon ein paar Trommelschläge, um den Rhythmus anzugeben. Auch könne die klassische Musik in viel größerem Umfang als bisher bei den modernen Tänzen verwendet werden. So eigne sich zum Beispiel für den neuen Foxtrott als Begleitmusik vorzüglich der Trauermarsch aus Händels "Saul".

Zum Bild oben: Zeitgenössische Postkarte aus dem von belgischen Truppen besetzten Karnap.

Quelle: Haus der Essener Geschichte / www.zeitpunkt.nrw - zusammengestellt und bearbeitet von Andreas Eickholt

 

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