Sie haben Fragen oder Anregungen? Schreiben Sie uns an:
Sie möchten Ihren Beitrag veröffentlichen lassen? Dann nutzen Sie unser
Sie möchten das ehrenamtlich arbeitende Nachrichtenportal borbeck.de unterstützen?
Mit einer Spende für mehr Inhalt und das interaktive leserfreundliche Layout helfen Sie uns sehr, aktuell und zuverlässig zu berichten, Tag für Tag! Auf Wunsch ist eine Spendenquittung möglich.
0 23.12.2024
Natürlich, Gedichte gehörten dazu. Unbedingt. Und das eine hatte ungefähr 147 Strophen, in meiner Erinnerung zumindest.
„Ich bin ein Esel alt und schwach
und habe in der heil’gen Nacht
im Stall zu Bethlehem gewacht
und manchmal leis’ ,I-a’ gemacht.“
So lautet die erste.
Heute weiß ich, dass das Gedicht (von James Crüss) nur acht Srophen zählt. Trotzdem kam mein Bruder - ich selber war für den Vortrag solcher literarischen Höchstleistungen noch viel zu klein - Christoph arg ins Schwitzen und zwischen Strophe vier und fünf ins Stottern, bevor er sich bei der letzten Strophe wieder fangen konnte.
Trotzdem hatte ich kleiner Krotz eine Lieblingsstrophe:
„Das Christkind war recht sonderbar
es zupfte mich in Bart und Haar
und einmal rupfte es sogar
den Bart von König Balthasar!“
Das fand ich klasse. Denn als Mädchen mit zwei älteren Brüdern kennt man sich aus mit Haareziehen und solchen Dingen. Da war ich Fachfrau sozusagen.
„Wo ist denn die Krawallhexe?“ pflegte Christoph zu fragen, wenn er aus der Schule kam und sich vorsichtig nach mir erkundigte. Ich mache ihm deswegen keine Vorwürfe, es war halt eine reine Vorsichtsmaßnahme seinerseits.
Die Weihnachtszeit begann für mich mit St. Martin. Der Martinszug war immer ein Erlebnis und ich platzte vor Stolz, wenn einer meiner Brüder eine Pechfackel tragen durfte und neben dem Gänsewagen herlief.
Ab Buß- und Bettag wurde außerdem bei uns zu Hause gebacken. Zuerst kam das Spritzgebäck an die Reihe, dann Spekulatius und Makrönchen.
Für Spritzgebäck und Spekulatius musste der Teig einige Zeit kühl stehen und ruhen. Er wurde dann auf einen riesigen Porzellanteller gelegt, mit einem sauberen Trockentuch zugedeckt und in den Keller gestellt. - Ein Fest für Krawallhexen!
Mit zwei Fingern habe ich tüchtig in den Teig gezwickt und genascht, dann mit dem Handballen den Teig wieder geglättet und so die Spuren verwischt. Wäre gar nicht aufgefallen, wenn nicht meine beiden Brüder den gleichen Kniff angewendet hätten.
Und so schrumpfte die Teigkugel binnen kürzester Zeit.
Die ersten Plätzchen gab es zu Nikolaus auf dem süßen Teller. Dazu Schokolade und Nüsse, rotbackige Äpfel (aus dem Garten natürlich) und Apfelsinen.
Lampenfieber ist eine schreckliche Angelegenheit. Bestimmt zweihundert Frauen im Saal der Wirtschaft waren mucksmäuschenstill wenn die Terholt-Kinder auf die Bühne traten.
„Wir sagen euch an den lieben Advent“ - Strophe eins bis vier, sang Klein-Anne mit dünnem Stimmchen. Bruder Christoph hatte schon Klavierunterricht und strapazierte auch die Geige. Ein paar Jahre später brauchte ich auf den Adventfeiern des Frauenbundes nicht mehr zu singen.
Jetzt hieß es „Wir sind allein auf dieser Welt“, geflötet von Klein-Anne und vom Klavier begleitet. Als Gage gab es stets ein Stück Sahnetorte.
Vom Musizierenmüssen verschont blieb übrigens mein Bruder Norbert. Er packte seine C-Flöte an, wie andere vielleicht einen Besenstiel anfassen würden und behauptete, seine Finger seien zu kurz, um auf diesem Instrument zurecht zu kommen. Deswegen kam auch Klavierunterricht für ihn nie in Frage.
Irgendwann später sind seine Finger doch gewachsen. Das war etwa zu der Zeit, als in seinem Zimmer ein riesiges Poster von Jimmy Hendrix hing, sich die Jungen die Haare bis an den Po wachsen ließen und Hippies von sich reden machten.
„Gammler werden“, antwortete er stets, wenn er nach seinem Berufsziel gefragt wurde. Er wünschte sich zu diesem Zweck eine Gitarre zu Weihnachten. Fortan erklang ein tiefes Röhren im Haus, begleitet von drei bis sechs Akkorden.
Alle meine Freundinnen verehrten ihn und im nachhinein frage ich mich, ob sie vielleicht nur wegen meinem Bruder so gerne zu uns kamen.
Norbert wünschte sich jedes Jahr zu Weihnachten ein Pony. Er meinte, der Garten sei groß genug. Ich hingegen hätte für mein Leben gerne ein Eichhörnchen gehabt. Kein echtes, ich war ja nicht blöd und wusste, dass man mit dem nicht vernünftig spielen konnte. Eins aus Plüsch wollte ich, mit einem tollen, buschigen Schwanz.
Was war ich traurig, als ich keines unter dem Weihnachtsbaum entdeckte. Um ein Haar hätte ich kartoffeldicke Tränen geheult. Dann nahm mich Vater zur Seite und zeigte auf die Tannenspitze. Er hatte das Eichhörnchen in den Baum gesetzt. Dort war dem armen Tier mittlerweile Kerzenwachs übers Fell gelaufen, aber ich war glücklich.
Sehr gerne hätte ich auch einen richtigen Puppenjungen gehabt.
Als „Paul“ dann in seinem Puppenkinderwagen unterm Weihnachtsbaum stand. sah ich direkt nach ob auch alles dran war. Durch meine Brüder und da vor allem durch den samstäglichen Badetag wusste ich ja Bescheid. Was für eine Pleite! Doch ich taufte Paul trotzdem nicht in Paula um.
Für die Puppenkleidung war meine Mutter zuständig. Sie nähte und häkelte die hübschesten Kleider. Meine Mutter war nämlich Schneidermeisterin von Beruf. Auch ich wurde in die hübschesten, selbstgenähten Kleider gesteckt und vor allem von den Müttern anderer Mädchen darum beneidet. „Wie schön!“ staunten sie. Mir war das unangenehm. Manche zauberhafte Stickerei kratzte und ich hatte es auch gründlich satt so angestaunt zu werden. Außerdem wollte ich viel lieber ein Junge sein. „Ich will im Stehen Pippi machen“, ist ein im Familienkreise gerne zitierter Satz.
Schwierig wurde es dann in der Pubertät mit all dem selber fabrizierten Kleidungsstücken. Ich wollte Jeans und einen Parka. Trug aber Cordhosen (braun, igitt!) und karierte Blousons, von Muttern genäht. Das war „mega-out“, wie man heute wohl sagen würde.
Die Welt war geteilt in Levis-Träger und Wrangler-Fans. Wer auch intellektuell was auf sich hielt, trug Levis. Die Wrangler-Fans hörten zudem die falsche Pop-Musik. Sweet und Baycity-Rollers: das war nichts für uns Schlauberger. Levis-Träger hörten Stones, Leonard Cohen und andere hochwertige Interpreten.
So einfach war das: Die Welt war entweder schwarz oder weiß.
Nur Weihnachten wurde immer schwieriger. Musste es in der Christmette immer eine der vorderen Reihen sein, so dass jeder sehen konnte, das die Familie Terholt auch vollständig versammelt war? Und danach: Friede, Freude, Eierkuchen. Nichts für junge Leute, die gewohnt sind, alles zu durchschauen und die Weisheit für sich gepachtet haben.
Eine „weihnachsfreie Zone“ gab es dann auch in der ersten eigenen Wohnung. Keinen Adventskalender, keine Kerze, keinen Tannenbaum, dafür jede Menge Besuch von Freunden, „Weihnachtsflüchtlinge“ allesamt. Wir hockten zusammen in der damals unvermeidlichen Matratzenlandschaft, hörten Platten und fühlten uns unheimlich cool.
Nur Wünsche gab es nach wie vor und die Geschenke von Eltern und Verwandten waren weiterhin willkommen.
Und heute? Der Zauber aus der Kindheit ist verflogen, das zwiespältige Gefühl aus den Jugendjahren nicht mehr ganz gewichen. Doch es gibt wieder einen Tannenbaum.
Und die Erkenntnis ist gereift, dass all das, was es sich zu wünschen lohnt, niemand auf der Welt einfach unter den Tannenbaum legen kann.
Kommentare
Einen Kommentar schreiben