Ein Esel alt und schwach

0 23.12.2022

Natürlich, Gedichte gehörten dazu. Unbedingt. Und das eine hatte ungefähr 147 Strophen, in meiner Erinnerung zumindest.

„Ich bin ein Esel alt und schwach I-a

und habe in der heil’gen Nacht

im Stall zu Bethlehem gewacht

und manchmal leis’ ,i-a’ gemacht.“

I-a

So lautet die erste.

Heute weiß ich, dass das Gedicht (von James Crüss) nur acht Strophen zählt. Trotzdem kam mein älterer Bruder - ich selber war für den Vortrag solcher literarischen Höchstleistungen noch viel zu klein - arg ins Schwitzen und zwischen Strophe vier und fünf ins Stottern, bevor er sich bei der letzten Strophe wieder fangen konnte.

Dennoch hatte ich kleiner Krotz eine Lieblingsstrophe:

„Das Christkind war so sonderbar

es zupfte mich in Bart und Haar

und einmal rupfte es sogar

den Bart von König Balthasar!“ I-a

Das fand ich klasse. Denn als Mädchen mit zwei älteren Brüdern kennt man sich aus mit Haareziehen und solchen Dingen. Da war ich Fachfrau sozusagen.

Die Weihnachtszeit begann für mich mit St. Martin. Der Martinszug war immer ein Erlebnis und ich platzte vor Stolz, wenn einer meiner Brüder eine Pechfackel tragen durfte und neben dem Gänsewagen herlief.

Im November begann die Backzeit. Zuerst kam das Spritzgebäck an die Reihe, dann Spekulatius und Makrönchen. Für Spritzgebäck und Spekulatius musste der Teig einige Zeit kühl stehen und ruhen. Er wurde dann auf einen riesigen Porzellanteller gelegt, mit einem sauberen Trockentuch zugedeckt und in den Keller gestellt.

Mit zwei Fingern habe ich tüchtig in den Teig gezwickt und genascht, dann mit dem Handballen den Teig wieder geglättet und so die Spuren verwischt. Wäre gar nicht aufgefallen, wenn nicht meine beiden Brüder den gleichen Kniff angewendet hätten. Und so schrumpfte die Teigkugel binnen kürzester Zeit.

Die ersten Plätzchen gab es für uns zu Nikolaus. Dazu Schokolade und Nüsse, rotbackige Äpfel (aus dem Garten natürlich) und Apfelsinen.

Lampenfieber ist eine schreckliche Angelegenheit. Bestimmt zweihundert Frauen im Saal der Wirtschaft waren mucksmäuschenstill wenn wir Kinder auf die Bühne traten. „Wir sagen euch an den lieben Advent“ - Strophe eins bis vier, sang Klein-Monica mit dünnem Stimmchen. Der Bruder hatte schon Klavierunterricht und strapazierte auch die Geige. Als Belohnung gab es für uns stets ein Stück Sahnetorte.

Vom Musizierenmüssen verschont blieb übrigens mein zweiter Bruder. Er packte seine C-Flöte an, wie andere vielleicht einen Besenstiel anfassen würden und behauptete, seine Finger seien zu kurz, um auf diesem Instrument zurecht zu kommen. Deswegen kam auch Klavierunterricht für ihn nie in Frage.

Irgendwann später sind seine Finger doch gewachsen. Das war etwa zu der Zeit, als in seinem Zimmer ein riesiges Poster von Jimy Hendrix hing, sich die Jungen die Haare bis an den Po wachsen ließen und Hippies von sich reden machten.

Er wünschte sich also eine Gitarre zu Weihnachten. Fortan erklang ein tiefes Röhren im Haus, begleitet von drei bis sechs Akkorden.

Alle meine Freundinnen verehrten ihn.

Eigentlich hatte Vater zwei linke Hände. Handwerkern gehörte jedenfalls nicht zu seinen Fähigkeiten. Im Garten grünte und blühte es, auch beim Tapezieren waren meine Eltern spitze, aber Wasserhähne reparieren oder Radios, Türen abschleifen: Das war nicht seine Sache. Um so mehr weiß ich heute zu schätzen, was er damals für sein Töchterchen gebastelt hat. Eine Puppenstube zum Beispiel. Mit Dachterrasse und Lampen in den Zimmern. Die konnte man sogar anmachen! Eine Batterie hinterm Haus sorgte für den Strom. Oder der Puppenkleiderschrank Marke Eigenbau! Toll.

So war das früher.

Und heute?

Der Weihnachtszauber aus der Kindheit ist verflogen, das zwiespältige Gefühl aus den Jugendjahren nicht mehr ganz gewichen. Doch es gibt noch immer einen Tannenbaum und ein paar Geschenke vom Wunschzettel. Doch die Erkenntnis ist gereift, dass all das, was es sich zu wünschen lohnt niemand auf der Welt einfach unter den Tannenbaum legen kann.

I-a.

Monica

P.S.: Das Gedicht stammt übrigens aus dem 1959 im Sigbert-Mohn-Verlag erschienenen Buch "So viele Tage wie das Jahr hat"  und enthält 365 Gedichte für Kinder und Kenner.

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 2 plus 6.